Verlassen steht er da – und ziemlich verfallen: Der Alte Leipziger Bahnhof in der Leipziger Vorstadt. Ursprünglich sollte hier mal ein Globus-Markt errichtet werden, diese Pläne haben sich jedoch Anfang vergangenen Jahres zerschlagen.
Das heruntergekommene Areal befindet sich zwischen der Leipziger Straße und dem Bahnhof Dresden-Neustadt und hat sich über die Jahre in einen lost place verwandelt. Dieser lockt nicht nur Spaziergänger an, sondern ebenso talentierte Skateboarder und junge Leute, die vor den Graffiti für Bilder posen.
Doch der Ort hat Potenzial und genau das will das „Handbuch zum Weiterdenken“ von Felix Greiner-Petter, Thomas Neumayer, Lennart Senger und Manuel Bäumler vermitteln. Im Jahr 2019 fand im Zentrum für Baukultur Sachsen (ZfBK) im Dresdner Kulturpalast eine Ausstellung statt: „Inspirationsort. Alter Leipziger Bahnhof Dresden. Was wäre, wenn…?“. Getreu diesem Motto entstand das liebevoll gestaltete „Handbuch zum Weiterdenken“, welches eine Kombination aus Lehrbuch und Leitfaden zum städtebaulichen Entwerfen ist.
Die Publikation vereint einführende Textbeiträge der Kuratoren und beteiligten Akteurinnen und Akteuren der Ausstellung und anschließenden Podiumsdiskussion, sowie Illustrationen zum Ort und seinen Möglichkeiten. Ein herausnehmbares Faltposter – wunderschön gestaltet – rundet die Lektüre perfekt ab. Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, wobei sich jedes Kapitel einem Begriff widmet.
Suchen
Den Anfang macht das Kapitel „Suchen“. Verlassene Ecken oder Baulücken zu finden, steht am Anfang eines jeden städtebaulichen Wettbewerbs. Diese Orte wecken nicht nur die Fantasie der Planer*innen, sondern auch die der breiten Öffentlichkeit, weswegen sich nicht nur Architekten fragen „Was wäre, wenn…?“
Entdecken
Im darauffolgenden Abschnitt werden die komplexen Eigenschaften des Gebietes um den Alten Leipziger Bahnhof beleuchtet. Die hübsch gestalteten Abbildungen und räumlichen Karten der Diplomandinnen und Diplomanden machen nicht nur auf das Potenzial und die besondere Lage des Areals aufmerksam, sondern auch auf Probleme.
Dabei lassen sie es sich nicht nehmen, den Leserinnen und Lesern von ihren individuellen Entdeckungstouren zu berichten. So sei ein Spaziergang auf dem Bahndamm in Richtung Neustadt empfehlenswert, da „auf den Gleisen kaum Verkehr ist. Ein klasse Ort für Abenteuer“.
Von den Gleisen aus könne man die traumhafte Skyline der Altstadt sehen und die Lärmanalyse einer Studentin ergab, dass es hinter den ehemaligen Bahnsteigbereichen keine unangenehmen urbanen Geräusche mehr gibt. Dadurch ist das Gebiet ein „Ort der Stille, welcher nur im Frühling durch die Hochstimmung der Avifauna durchbrochen wird.“ (Als Avifauna werden alle in einer Region vorkommenden Vogelarten bezeichnet – L.L.)
Andere Kommentare lassen beim Lesen schmunzeln und so gibt es anscheinend zwischen zwei Bahndämmen einen „last Baum standing“, nach dem man auf dem nächsten Spaziergang Ausschau halten kann.
Es folgen einige spannende Statistiken, wie beispielsweise über das Durchschnittsalter der Dresdner Einwohner (das liegt in der Altstadt interessanterweise, jedoch nicht weiter überraschend, knapp 13 Jahre über dem der Neustadt) und dem öffentlichen Freiraum nach Stadtteilen, welcher in Leuben und Pieschen mit Abstand am kleinsten ist.
Außerdem wird auf die Flora und Fauna des Gebietes hingewiesen, ein Gedicht von 1838 beschreibt die erste Dampfwagenfahrt in Dresden. Passend dazu erfahren die Leserinnen und Leser anhand eines Zeitstrahles und Grafiken mehr über die Geschichte des Alten Leipziger Bahnhofs.
Daneben wurden während der Ausstellung die Besucher interviewt. Diagramme zeigen dabei die statistische Verteilung der Meinungen, beispielsweise ob sich diese vorstellen könnten, in dem Gebiet des Alten Leipziger Bahnhofs zu wohnen und wie zufrieden sie mit den Mitsprachemöglichkeiten in Dresden sind (Spoiler: sehr unzufrieden). Das waren jedoch nur zwei von vielen wirklich interessanten Statistiken. Außerdem verdeutlicht eine grafische Wortwolke, welche Begriffe in den Notizen der Ausstellungsbesucher am häufigsten auftauchten.
Am Ende des Abschnitts finden sich Zitate von Besuchern, welche einfallsreiche, aber auch teilweise provokante Hinweise, Vorschläge und Wünsche bezüglich des Ortes äußern.
Probieren
Im dritten Kapitel zeigen Studierende ihre Überlegungen zu der Brachfläche in Projekten, welche abgesehen von verschiedenen Darstellungs- und Bearbeitungstiefen, eine Gemeinsamkeit aufweisen: Alle zeigen unterschiedliche Ideen und Leitbilder für denselben Ort.
Es ist spannend zu sehen, wie jeder studentische Beitrag den Alten Leipziger Bahnhof anders interpretiert und die städtebaulichen Motive dadurch variieren.
Kreativität kennt keine Grenzen und so entstehen in den Projekten urbane Stadtquartiere mit Gastronomiebetrieben, ruhige Stadtoasen, ein klimaneutrales Viertel und vieles mehr. Abgerundet werden die Projekte durch greifbare Bilder und Skizzen, die einem das Entwicklungspotenzial des Areals vor Augen führen.
Abschließend lässt sich sagen, dass sich die detaillierten Projekte wunderbar als Diskussionsgrundlage für einen gemeinwohlorientierten Städtebau eignen.
Zeigen
Der folgende Abschnitt bündelt die Impressionen der Ausstellung 2019. Eine Vielzahl von Modellen, Bildern mit Eindrücken des Leipziger Bahnhofs, Hörbeiträge, wie ein akustischer Rundgang im Bahnhofsquartier sowie ein großformatiges begehbares Luftbild des Areals vereinfachen das komplexe Thema. Diese multimediale Vermittlung ermöglichte Fachfremden Mitsprache und Beteiligung.
Das Handbuch lässt die Leserinnen und Leser diese Ausstellung erleben und obwohl man auf Hör- und Videobeiträge verzichten muss, bekommt man einen sehr guten Eindruck.
Reden
Das vorletzte Kapitel dreht sich um eine Podiumsdiskussion. Diese wurde von der Bürgerinitiative „Wohnen am Leipziger Bahnhof“ initiiert und trägt den Titel „Wer bestimmt eigentlich wie wir wohnen? – Akteure im Gespräch“. Das abgedruckte Gespräch zeigt anschaulich die jeweiligen Absichten und Spielräume der eingeladenen Akteur*innen, aber auch die Grenzen der Stadtplanung.
Manuel Bäumler ist der Meinung, dass man am Alten Leipziger Bahnhof „einfach ein gutes Stück Land entwickeln kann“ und Regionalplaner Fritjof Mothes bringt es mit seinem Schlusswort auf den Punkt: „Miteinander Reden ist das Beste“.
Entwickeln
Der letzte Abschnitt sucht nach einem Ausblick für den weiteren Planungsprozess und beleuchtet Zukunftsszenarien. Dabei beschreibt die Publikation sechs prägnante Entwicklungsphasen, welche das Einbeziehen verschiedener Akteur*innen gemeinsam haben.
Diese werden übersichtlich auf einer Seite des doppelseitigen Faltposter dargestellt – auf der anderen Seite ist das Gebiet des Alten Leipziger Bahnhofs abgedruckt. Ein kurzes Glossar mit Fachbegriffserklärungen für Laien rundet die Publikation ab.
Das Buch lässt sich auch ohne städtebauliche Vorahnung gut lesen, die Kapitel sind für Fachfremde sehr verständlich erklärt und obendrein ist es wunderschön illustriert. Man merkt als Leserin, wie viel Liebe in das Handbuch und seine Gestaltung gesteckt wurde und es macht Lust darauf, den Alten Leipziger Bahnhof mit anderen Augen zu erkunden und sich zu überlegen, was dort entstehen könnte.
Das Potenzial der Fläche ist enorm und die Fragen des Handbuchs schwirren einem im Kopf herum: „Wer entscheidet eigentlich, wie wir wohnen?“ und „Warum wird diese Fläche nicht anders genutzt?“
Natürlich ist es Ansichtssache, was mit dem Gebiet passieren soll und die Skateboarder würden sich sicherlich nicht über den Abriss des Alten Leipziger Bahnhofs freuen. Kürzlich meinte ein Mitarbeiter aus der Stadtplanung im inoffiziellen Gespräch, dass es schade wäre, wenn die dortige Skate-Kultur einfach verloren gehen würde.
Weitere Infos über den Alten Leipziger Bahnhof
Berichte und Hintergründe zur Auseinandersetzung um die Globus-Ansiedlung
Ein Buch nach meinem Geschmack, etwas für den Kaffeetisch oder die Toilette um mal Besucher darin blättern zu lassen. Optisch scheinbar auch sehr gut gemacht (auch wenn das Cover mir persönlich nicht so zusagt).
Danke für den Hinweis, wird demnächst bestellt.