Auch wenn die Corona-Krise gefühlt schon ewig dauert, lässt sich ihr Verlauf in der eigenen Biografie recht gut nachvollziehen: Der abgebrochene Urlaub, der letzte Kneipenbesuch, das abgesagte Konzert, die geplatzte Theatervorstellung, der Tag, an dem man den guten Freund das letzte Mal sah … Eine lange Liste der Verluste in nicht einmal vier Wochen. Am 26. März beschloss ich, einer Freundin einen Blumenstrauß zu schicken. Meine Freundin stammt aus Italien. Als ich im Zuge der Corona-Welle bedauerte, dass meine Friseurin nun geschlossen hätte, schlug sich ihr Herz schon wegen des Abertausendsten Toten an den Rippen wund. Fassungslosigkeit, Schmerz, Angst, gaben ihr bei der Besprechung der aktuellen Situation am Telefon die Autorität, mir die Dringlichkeit der Lage bewusst zu machen und meine Vorstellung der Krise zu erweitern. Es ging nicht um lästige Einschränkungen, es ging um Menschenleben.
Was sollen Blumen da helfen?
Nach dem Telefonat war ich hilflos: Uns trennen nur ein paar Kilometer Radweg voneinander – aber wie wortlos trösten ohne eine Umarmung? Corona – was sollen Blumen da helfen? Zweifelsohne eine klassische, kitschige Geste. Aber Blumen sprechen nun einmal, wenn man selbst nicht viel sagen kann. Je üppiger, desto besser. Ich schrieb eine Mail an Schenk Blumen. Die Freude war auf beiden Seiten groß: Ein Auftrag hier, angelieferte Freude da. Ich bestellte die Farben Grün, Weiß und Rot. Es lebe Italien! Bianka Schenk und ich fädelten alles ein. Am nächsten Tag sollte die Übergabe im Pieschener Homeoffice sein.
Die Stunde der Übergabe war längst vorbei, die Zeiger tickten. Zweifel machten sich in mir breit. Vielleicht fand meine Freundin die Idee unangemessen. Oder sogar verantwortungslos, wegen der Lieferung an die Haustür … Endlich, die erlösende Nachricht mit einem Foto. Die Blütenpracht hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Und wirklich: Besser hätte ich es nicht sagen können. Dazu noch die Neugier, was sich aus den vielen unbekannten Knospen entwickeln würde. Meine Freundin war selig. Und ich schob hinterher: Jede Blüte ist eine neue Hoffnung.
Verblühende Pracht
Die Krise nahm ihren globalen, lokalen und ihre unzähligen individuellen Verläufe. Kontaktsperre, Hamsterkäufe, Auflagen. Unsicherheiten, Unklarheiten, Langeweile, Stress. Nach einer Woche erreichte mich ein neues Bild vom Strauß. Verblühende Pracht, memento mori. Tropfendes Herzblut. Mittlerweile konkurrierten im Gesellschaftlichen wie im Privaten die Deutungen der Krise miteinander. Gereizte Gemüter, Empörung, Zweifel an gefahrenen Kursen, blanke Nerven, Budenkoller. Auf der Gegenseite euphorische Entwürfe für die gelobte „Zeit danach“, Gesten der Freundschaft und Zuneigung, Ich fühlte mich trotzdem nicht farbenprächtig, eher schlapp und hilflos. Gerbera halten den Kopf auch nur oben, weil sie auf einen Draht gespießt sind …
Ein Wunder der Gärtnerin
Dann kam Ostern, bei Kaiserwetter. Endlose Sonnenstunden, ungestörtes Lesen, das Gefühl von langer Weile im positiven Wortsinn. Im Beet nickten die ersten lachsroten Tulpen im Takt der Blaumeisengesänge – die Pracht des Frühlings ließ sich vom Virus nicht aufhalten. Im Herzen war Aprilwetter. Mal sonnig, mal finster. So eine Krise ist eine verflixte Kiste. Man vermisst die Dinge, die einen sonst fordern, ist angeödet von denen, die man sonst genießt. Das große Nach-Ostern-wird-alles-anders-Gefühl blieb erst einmal aus. Es ging alles weiter wie bisher – nämlich mit viel Desinfektionsspray, Mundschutz und Telefonkonferenzen.
Es ist der 15. April. Ich starre ungläubig auf mein Handy-Display. Da strotzen Blüten in Schlohweiß. „Ein Wunder der Gärtnerin“, schreibt meine Freundin. Diese Blüten sind Verwandlungskünstler, standhafte Krisenmanager, zarte Hoffnungsträger. Vieles hat sich verändert in nur vier Wochen. Sogar die Wandfarbe bei meiner Freundin. Dass uns Blumen in Freundschaft verbinden, ist geblieben. Vielleicht ist es sogar etwas stärker geworden, das fascia di fiori. Ich seufze tief. Und schreibe diesen Text. Jede Blüte eine neue Hoffnung.
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