Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges befand sich im Grundstück Leipziger Straße Nr.70 die Waffelfabrik des Richard Seim. Erstmals 1905 im Dresdner Adressbuch sowie im Verzeichnis der Waffel- und Oblaten-Fabrikanten als Waffelbäcker vermerkt, wohnte er zunächst in der Windmühlenstraße Nr.8, verlegte aber wenig später Wohnsitz und Fabrikationsstätte in die Hechtstraße Nr.69.
Drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezog Richard Seim das bislang von der Sächsischen Kofferfabrik „Stabilist“ und anschließend vom Rohproduktenhändler Julius Gubisch als Gewerbelager genutzte Fabrikgebäude in der Leipziger Straße. Hier, am Hauptproduktionsstandort, wurden unter anderem die 1908 in Paris anerkannten Waffeln Marke „Eisblume“ hergestellt. In Bodenbach an der Elbe (heute Děčín) befand sich außerdem eine Filiale.
Im Zusammenhang mit der Waffelfabrik Richard Seim und dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der in Mickten lebende Zeitzeuge Dieter Haufe für die von 2006-2011 erschienene „Nordwest Rundschau“ Folgendes geschrieben:
„Der Krieg war vorbei! Keine Sirenen, keine Bomben und Granaten – Frieden! Das Leben ging weiter. Eines der größten Probleme war die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Nach dem 8. Mai gab es wieder Lebensmittelmarken. Im ‚Kampf um das tägliche Brot‘ wurden außerdem Möglichkeiten genutzt, um vor allem Gemüse und Kartoffeln auf kleinstem Raum zwischen den Trümmern anzupflanzen und zu ernten. Der ‚Schwarze Markt‘ hatte Hochkonjunktur! Doch wer kein Geld oder Tauschangebote besaß, konnte davon nicht profitieren. Ich erinnere mich aber auch, dass nach dem letzten Kriegstag die Menschen begannen, militärische und zivile Lebensmittellager der Stadt auszuräumen, sie also zu plündern. In Pieschen war schnell bekannt geworden, dass sich unmittelbar neben dem Kino ‚Faunpalast‘ ein solches Lager befand. Es war die ‚Waffelfabrik Seim‘, deren ruinöses Fabrikgebäude noch heute im Grundstück des Autohandels an der Leipziger Straße steht.“
„In den oberen Stockwerken lagerten Säcke mit Mehl, Zucker und anderen Lebensmitteln. Im Erdgeschoss standen große Kessel mit Kunsthonig, der eigentlich zur Herstellung von Lebkuchen und anderen Backwaren gebraucht wurde, in den Jahren des Zweiten Weltkrieges aber anstelle von echtem Honig als Brotaufstrich Verwendung fand. Mein Vater und ich staunten nicht schlecht, als wir sahen, dass in den Kesseln Männer standen und den Honig mit Spaten ab- und herausstachen. Nebenan lagerten auf Gestellen Fässer mit schwarzem Sirup. Die Pieschener öffneten in großer Hast die Fässer, drehten sie mit dem Spundloch nach unten und füllten sich Sirup in ihre Eimer und Gefäße.
Weil sie die Fässer aber nicht wieder in ihre Ausgangslage brachten, flossen erhebliche Mengen Sirup auf den Boden. Die hintersten Fässer liefen ganz aus, weil keiner im Gedränge mehr herankam. Natürlich hatten wir, mein Vater und ich, auch Sirup ‚erworben‘. Wie viel es war, weiß ich nicht mehr, aber es reichte einige Zeit und für Tauschgeschäfte auch. Noch viele Wochen danach waren auf den Fußwegen der Leipziger Straße und auf anderen Straßen Pieschens schwarze Streifen von den vielen mit Sirup verklebten Schuhen der ‚Plünderer‘ sichtbar. Man konnte diesen Spuren nachgehen, sie wurden in den sich verzweigenden Nebenstraßen immer schwächer. Erst spätere Regenfälle säuberten nach und nach die Fußwege.“
Als beim ersten amerikanischen Luftangriff am 7. Oktober 1944 auf Dresden das Haus seiner Kindheit Am Queckbrunnen Nr.2 in der Wilsdruffer Vorstadt zerstört wurde, war Günter Haufe elf Jahre alt. Nach einer vorübergehenden provisorischen Unterkunft in Cotta, fanden er und seine Familie dann auf der Torgauer Straße in Pieschen ein neues Zuhause. Hier erlebte er am 17. April 1945 auch den letzten Luftangriff auf Dresden – ein Angriff, der in Pieschen Häuser zerstörte und Menschenleben forderte. Der heute Vierundachtzigjährige kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Nach der Schulentlassung 1947 zunächst als „Arbeitsbursche“ in einem chemischen Betrieb angestellt, lernte er ab 1948 im „Sachsenverlag“ an der Riesaer Straße den Beruf des Industriekaufmanns, war von 1952 bis 1965 Angehöriger der Dresdner Verkehrspolizei, daran anschließend Leiter im kommunalen Dienstleistungsbetrieb Taxi, ab 1970 Direktor des VEB Taxi Dresden und zuletzt leitender Mitarbeiter in der Abteilung Verkehr beim Rat des Bezirkes Dresden. Dieter Haufe wohnt seit 1960 in der Lommatzscher Straße, ist verheiratet, hatte, auch im Rahmen der Pieschener Hafenfeste, eine Vielzahl kulturhistorischer Wanderungen zu den Dorfkernen des Dresdner Nordwestens organisiert und ist seit Jahren Mitglied der Abteilung Wandern des SV TuR Dresden. Ein angenehmer Zeitgenosse ist er außerdem, einer, der weiß, WARUM, WAS, WIE und WO im Dresdner Nordwesten geschah.
Im Haus Leipziger Straße Nr.72, das ebenso wie die Nr.70 durch die anglo-amerikanischen Bombenangriffe im Frühjahr 1945 zerstört wurde, wohnte von 1930 bis zur Verhaftung der im August 1944 hingerichtete Antifaschist Kurt Schlosser. Seinen Namen trägt seit 1949 der Dresdner Bergsteigerchor, der auch die Patenschaft für den Gedenkstein übernommen hat. Nur wenige Meter davon entfernt steht mit der Nr.76 ein mehrgeschossiges Haus, in dem ab 1929 das Filmtheater „Faunpalast“ mit seinen 600 Plätzen eine gute Kinoadresse war. Im Nachwendejahr 1991 aus baupolizeilichen Gründen geschlossen, wurde der Saal 2003 abgerissen und stattdessen ein LIDL-Markt errichtet. Dass in der Nacht zum 1. Juni 1991 vor dem „Faunpalast“ der Neonazi Rainer Sonntag von zwei Zuhältern des nahe gelegenen Bordells „Sex Shopping Center“ erschossen wurde, sei nur am Rande erwähnt.
Wenn die Chronik der Nürnberger Lebkuchenfabrik „Gebr. Seim“ stimmt, dann wurde sie am 1. April 1910 als erste Waffelfabrik der zweitgrößten Stadt Bayerns von den Brüdern Otto und Georg Seim gegründet. Letzterer hatte die Kenntnisse zur Herstellung von Waffeln aus Dresden mitgebracht. Ob die Nürnberger Firmengründer nun Brüder des Dresdner Waffelfabrikanten Richard Seim oder gar seine eigenen Kinder waren, das sei dahingestellt, die Wurzeln der „Nürnberger Lebkuchen“ liegen jedenfalls in Dresden.
>> zum Archiv von Brendler’s Geschichten
4 thoughts on “Brendler’s Geschichten: Die Wurzeln der „Nürnberger Lebkuchen“ liegen in Dresden”
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Werter Herr Brendler, Ihr Artikel war höchst interessant und detailreich.
Uns ist nur aufgefallen, dass der Titel Ihrer Geschichten mit „Brendlers“ statt „Brendler´s“ Geschichten überschrieben werden müsste. Freundliche Grüße.
@richter: Danke für den Hinweis. „Brendler’s Geschichten“ ist ein Eigenname (Produktname), der speziell für diese Serie von Klaus Brendler kreiert wurde. Darum dürfen wir hier das Apostroph verwenden. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen weiterer Geschichten.
teh fuck?
Klar dürft ihr den Apostroph verwenden wie ihr wollt – niemand verbietet euch irgendwo falsche Rechtschreibung – aber das ist doch kein Argument das auch zu tun?
Man macht sich mit sowas lächerlich. Ich würde das ja vermeiden wollen.