Manche von den braven Pieschener Bürgern verpassten den Kirchgang und andere den Sonntagsstammtisch in ihrer Kneipe. Trotz eisigem Wind standen sie mit Kind und Kegel am 10. März 1929 zuhauf an der Einmündung des Pieschener Hafens in die Elbe. Ihnen bot sich ein besonderes Schauspiel. Unterhalb im Hafen versuchte der Fährmeister Jakob gemeinsam mit drei Wehrleuten vom Feuerlöschboot den kleinen Fährdampfer namens „Helene“ fahrtüchtig zu machen und einen Weg durch das Eis zu bahnen. Seit Wochen hatte der strenge Winter der Elbe eine dicke Eisdecke beschert. (siehe Festschrift 50 Jahre Bürgerverein Pieschen, 1934) Und die Meteorologen werden einmal diesen Winter 1928/29 als einen der kältesten des Jahrhunderts bezeichnen. Doch nun taute es endlich und die Eisdecke löste sich in viele Schollen auf, die stetig nach Norden drifteten.
Das Abenteuer begann
Deshalb wagte der Fährmeister den Versuch, mit „Helene“ das Schlachthofufer gegenüber zu erreichen, um den Weg dorthin für die Pieschener endlich wieder zu verkürzen. Einige Burschen hatten sich mit speziellen Wärmflaschen gewappnet und ließen den Klaren kreisen, was die Stimmung hob.
Aber so einfach, wie es sich der Meister Jakob das dachte, war die Überfahrt nicht. Die elfte Stunde war inzwischen erreicht und „Helene“ hatte den schützenden Hafen noch immer nicht verlassen. Die meisten der Gaffer zog es ob zunehmender Langeweile und die langsam unter die Klamotten kriechende Kälte ins Warme ihrer Wohnungen und zum Sonntagsbraten.
Den Feuerwehrleuten an Bord wurde es inzwischen auch frostig um die Nase und in Jakob stieg eine Wut über die eigene Hilflosigkeit auf. Es gab kein Zurück mehr. Langsam, aber stetig quälte sich Helene aus dem Hafen. Die Eisschollen drückten von Luv und Lee. Das sah ziemlich gefährlich aus, denn das Schiff wurde mit dem Bug voraus des Öfteren auf eine Eisscholle gehievt und saß dort immer wieder fest. Nach drei Stunden, so gegen 2 Uhr nachmittags, erreichte man das andere Ufer. Applaus gab es von den Leuten auf der Pieschener Seite, deren Zusammensetzung immer wieder wechselte. Der Fahrmeister atmete auf. Doch zu früh gefreut. Aus der Dresdner Richtung schoben sich dicke Eisschollen nach, die auf Grund der wieder sinkenden Temperaturen eine geschlossene Eisdecke zu bilden drohten. Dadurch wurde dem kleinen Dampfer der Rückweg versperrt. (siehe Dresdner Volkszeitung vom 11. März 1929)
Trotzdem versuchte Jakob mit immer größerer Verbissenheit „Helene“ flott zu machen und zurückzukehren. Das Ergebnis: Lenchen lief auf Grund und drehte ihr Hinterteil schmollend in Richtung Pieschen. Einige alte Weiber sahen darin ein böses Omen.
Das Werk alter Elbgeister?
Es sei ein Racheakt des alten Nix, der die Menschen am Ufer seines Wasserreiches wegen des ungebührlichen Begehrens eines jungen Schäfers. So erzählte es eine von ihnen der lauschenden Ansammlung. Vor langer Zeit soll dieser Bengel sich in dessen Tochter verliebt haben und wollte sie ehelichen. Das verhinderte der Alte, indem er seine Tochter tötete. Darüber grämte er sich so stark, dass er seitdem die Menschen auf seinem Fluss und an den Ufern mit Hoch- und Niedrigwasser, mit stürmischen Wogen und eisiger Kälte bedrohte und sich das eine oder andere Opfer holte.
Die einen lachten das alte Mütterchen wegen dieses altertümlichen Blödsinns aus, andere genossen die Kurzweil der Erzählung und vergaßen darüber den kalten Wind. Und die jugendlichen Säufer mit ihrem ziemlich hohen Alkoholpegel verspotteten sie wegen dieser abergläubischen Geschichten.
Glück gehabt
Die kleine Besatzung auf der „Helene“ bekam davon nichts mit. Sie hatte jedoch Glück im Unglück. Ein kleines Boot von der Altstädter Landungsbrücke ließ sich mit dem Eis an die Unglücksstelle treiben und rettete den Fährmeister und die drei Feuerwehrleute vor der Kälte der Nacht und vielleicht vor noch Schlimmerem.
Im Laufe des Montags konnte „Helene“ wieder flott gemacht werden und kehrte reumütig und vom Eis etwas lädiert in den Pieschener Hafen zurück. Und Meister Jakob? Der hatte noch lange den Spott der Pieschener auf den Straßen und in seiner Stammkneipe zu ertragen.
Der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb durchstöbert für seine Geschichten mit Vorliebe die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Die Artikel sind literarische Texte, die reale Begebenheiten, Orte und Personen enthalten, die mit Fiktivem verwoben sind
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Sehr schöne Erzählung. Mein Vater, Jahrgang 1920, erzählte viele kleine Geschichten über den Fährmann Jakob. Das Fährschiff „Helene“ kenne ich noch aus meiner Kindheit. Meine Mutter ist oft mit uns Kindern übergesetzt und zum Schlachthof gelaufen, da gab es für wenig Geld Freibankfleisch. In meiner Erinnerung war die Schlange vorm Geschäft immer sehr lang.
Ich wohne seit meiner Geburt in Pieschen.