Brendler’s Geschichten: Die „Oschatzer“ rauf und runter

Am 2. Februar 1895 ließ der seit 1881 das Amt des Pieschener Gemeindevorsitzenden bekleidende Franz Gustav Lemcke in der „Elbthal-Morgen-Zeitung“ das Folgende veröffentlichen: „Nach der am 28. Januar diesen Jahres aus den Hauslisten erfolgten Feststellung der Bevölkerungsverhältnisse des Ortes betrug die Einwohnerzahl Pieschens insgesamt 15.324 Seelen. In den 492 bewohnten Gebäuden wurden 3.547 Haushaltungen festgestellt.“

Die Oststraße, damals eine der 28 benannten Straßen, war mit fast 1.900 Männern, Frauen und Kindern neben der Ringstraße (heute Leisniger Straße) der am dichtesten bewohnte Teil der Gemeinde. Mit Abstand folgten die Leipziger Straße und die Schulstraße. Letztere trägt seit 1897 den Namen Bürgerstraße.

Platzanlage in Oschatz, im Hintergrund das Wahrzeichen der Stadt, die St.-Aegidien-Kirche. Foto: Kerstin Gottwald (2014)

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Als am 1. Juli 1897 Pieschen in die Haupt- und Residenzstadt Dresden eingemeindet wurde, musste die Hälfte seiner Straßen und Wege auf Grund des „…Vorhandenseins gleichnamiger Straßen in anderen Teilen der Stadt umbenannt werden.“ (Namenbuch der Straßen und Plätze im Norden der Stadt Dresden / Manuskript 2000).

Das betraf auch die 1877 benannte Oststraße, die ihren Namen dem Umstand verdankte, dass sie bislang die Ostgrenze der Gemeinde Pieschen zur Leipziger Vorstadt bildete. Eine Straße gleichen Namens gab es zum Zeitpunkt der Eingemeindung Pieschens schon in Dresden-Strehlen sowie in den Vororten Cotta, Kaditz Löbtau und Blasewitz.

Die nahezu 600 Meter lange Pieschener Oststraße erhielt den Namen der etwa 15.000 Einwohner zählenden nordsächsischen Großen Kreisstadt Oschatz. Im Jahre 1238 erstmals urkundlich erwähnt, nennt sie sich heute „die Stadt im Herzen von Sachsen“.

Übrigens sind die meisten der heute fast 50 in und durch Pieschen verlaufenden Straßen nach sächsischen Städten bzw. Orten aus dem Dresdner Umland benannt.

Geschäftsanzeigen, entnommen dem „Wohnungs- und Geschäfts-Handbuch für Pieschen, 1895“. Foto: K. Brendler

Das Dresdner Adressbuch (Jahrgang 1896) listet für die Pieschener Oststraße nicht nur Werkstätten von Schneidern, Schuh- und Uhrmachern, Klempnern, Schlossern sowie Verkaufsläden von Bäckern, Fleischern, Milch- und Grünwarenhändlern, sondern auch Kleider- und Wäschegeschäfte, Holz- und Kohlehandlungen und mehrere Fuhrunternehmen auf.

Darunter das Milch, Käse und Butter verkaufende Geschäft des August Bargholdt im heute denkmalgeschützten Haus Oschatzer Straße Nr. 19. Er teilte sich damals die Ladenräume mit der Grünwarenhändlerin Ida Jentzsch.

Zudem luden auf der heute von den Anwohnern liebevoll „Oschi“ genannten Straße damals die Gaststätten „Zum Silberhammer“ (Nr. 12), „Zur Hopfenblüte“ (Nr. 26), das „Speisehaus Zenker“ (Nr. 51), die „Konditorei Ludewig“ (Nr. 52) und der „Leisniger Hof“ (Nr. 55) zur Einkehr. Wenig später eröffnete auch das „Cafe Saxonia“ (Nr. 13), das bis in 1930er Jahre bestand.

Ersteigentümer der Oschatzer Straße Nr.17 (links) war Klempnermeister Otto Luscher und der Nr.19 (rechts) Wild- und Geflügelhändler Heinrich Haab / Foto: K. Brendler (2023)

Ausgang des 19. Jahrhunderts hatte sich das Zentrum Pieschens vom historischen Altpieschen zur Bürgerstraße mit seinen Querstraßen hin verlagert. „Hier entstanden belebte Geschäftsstraßen mit langen Schaufensterreihen. Vor allem um die Oschatzer Straße und auf ihr selbst wurde Pieschen ein wichtiges Einkaufszentrum außerhalb der Innenstadt Dresdens mit […] vielen Bekleidungs-, Lebensmittel- und anderen Geschäften des täglichen Bedarfs. […] Oft kauften auch die Bewohner der benachbarten Stadtteile wegen der größeren Auswahl und billiger Preise hier ein.“ Nachzulesen in „Der Stadtbezirk Nord der Stadt Dresden / Aus der Geschichte seiner Stadtteile“, herausgegeben vom Rat des Stadtbezirkes Nord der Stadt Dresden, Abteilung Kultur, dessen erste Auflage 1983 erschien.

In der Oschatzer Straße Nr. 15 befand sich von 1933 bis 1938 das Kaufhaus „Hava – Haus der vielen Artikel“. Quelle: AK von 1935, Archiv K. Brendler

Rückbetrachtend war die Oschatzer Straße dereinst also eine gefragte Adresse. Und das nicht nur, weil hier „Radio Lenk“ (Nr. 14), die „Drogerie Langer“ (Nr. 30), Luschers „Elektroanlagen und Radiogeschäft“ (Nr. 17), die „Buchhandlung Bertl Hoffmann“ und „Photo Varenholz“ (beide Nr. 4) sowie der 1945 von Friedrich Köpping eröffnete Laden für „Eisenwaren“ (Nr.1) zu Hause waren, sondern auch wegen der beiden Kaufhäuser (Nr. 15 und Nr. 16/18) an der Kreuzung Oschatzer Straße und Konkordienstraße.

Während in der Oschatzer Straße Nr. 15 seit 1930 u.a. der amerikanische Woolworth-Konzern und nach 1945 die Konsumgenossenschaft Dresden ihre Waren- bzw. Kaufhäuser betrieben, befand sich in der Oschatzer Straße Nr. 16/18 einst das Modehaus Kornblum & Michaelis, später das Textilwarenfachgeschäft Schuppan und danach ein Kaufhaus der Handelsorganisation (HO) Dresden.

Heute haben in der Nr. 15 der Lebensmittelmarkt „Gazi – Istanbul Market“ und in der Nr. 16/18 die „Moos·Moos Manufaktur“ aus dem sächsischen Oppach ihren Sitz.

Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf (1700-1760), in „Das Leben des Nicholas Lewis Graf Zinzendorf“ (1838). / Foto: Archiv K. Brendler

Im kürzeren, zwischen Bürgerstraße und Leisniger Straße verlaufendem Teil der Oschatzer Straße, ließ sich Ende 1890 in der Nr. 39 Buchdruckereibesitzer Heinrich Gustav Schaarschuch nieder. Sein Sohn, der Fotograf Kurt Schaarschuch (1905-1955), verfasste die erstmals 1945 veröffentlichte und bis Ende 1946 in zahlreichen Exemplaren verkaufte Publikation „Bilddokument Dresden 1933-1945“.

Im Hofe des Nachbargrundstücks (Nr. 41), von 1937 bis 1945 Eigentum der „Evangelische Gemeinschaft in Sachsen“, erwarb 1978 die „Herrnhuter Brüdergemeine“ eine kleine Kirche. Sie diente bisher der evangelisch-methodistischen Kirche als Gemeindezentrum.

Die „Herrnhuter Brüdergemeine“ wurde am 13. August 1727 von Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf (1700-1760) und Pfarrer August Gottlieb Spangenberg (1704-1792) in der Kirche zu Berthelsdorf (OT der ostsächsischen Stadt Herrnhut) gegründet. Herrnhut ist heute auch Sitz der in 35 Ländern aktiven evangelischen Gemeinschaft.

Den Häusern Nr. 39 und Nr. 41 gegenüber befindet sich im Grundstück Nr. 40/42 seit Mai 2006 die Integrations-Kindertagesstätte „Leuchtturm“. Sie bietet Platz für 97 Kinder, die in zwei Kleinkindgruppen (Krippe) und vier altersgemischten Kindergartengruppen betreut werden.

Seite 122 (Ausschnitt) des Bandes 2 von „Die Geschichte des Dresdner Vorortes Pieschen“, Gesamtherstellung „Druckerei & Verlag Christoph Hille“ Dresden 2008. Foto: K. Brendler

Wer mehr über die Oschatzer Straße in Erfahrung bringen möchte, dem sei „Die Geschichte des Dresdner Vorortes Pieschen“ von Heidemarie und Heinz Glodschei aus dem Jahre 2008 empfohlen. Beide Bände der heimatgeschichtlichen Publikation sind Bestand der Bibliothek hinter dem Pieschener Rathaus und können dort ausgeliehen werden.

Wissenswert auch, dass in der gegenwärtigen Liste der Kulturdenkmale für den Stadtteil Pieschen die Doppelwohnhäuser Oschatzer Straße Nr. 25/27 und Nr. 46/48 sowie die zwischen 1895 und 1900 der Nutzung übergebenen mehrgeschossigen Mietswohnhäuser Nr. 11, 15, 19 und 23 ausgewiesen sind.

Brendler’s Geschichten ist eine Serie, in der Klaus Brendler für das Onlinejournal Pieschen Aktuell in loser Folge an Orte, Ereignisse und Personen im Stadtbezirk Pieschen erinnert. Der Stadtteilhistoriker und Autor war von 2007 bis 2023 Vorsitzender des Vereins „Dresdner Geschichtsmarkt“ und von 2002 bis 2022 Leiter der „Geschichtswerkstatt Dresden-Nordwest“. Er lebt in Dresden-Trachau.
>> zum Archiv von Brendler’s Geschichten

3 Kommentare zu “Brendler’s Geschichten: Die „Oschatzer“ rauf und runter

  1. Niemand, Angelika sagt:

    Gut gemacht!

  2. palisadenhonko sagt:

    sehr interessant, danke! die kreuzung wirkt auf dem foto vom „hava“ so riesig. ob das an den fehlenden autos liegt?

  3. Klaus Brendler sagt:

    Die Feststellung, dass die „Herrnhuter Brüdergemeine“ von Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf (1700-1760) und Pfarrer August Gottlieb Spangenberg (1704-1792) gegründet wurde, ist so nicht richtig. Zur eigentlichen Geburtsstunde wurde eine vom Pfarrer Johann Andreas Rothe (1688-1758), nicht von Pfarrer August Gottlieb Spangenberg, am 13. August 1727 in der Kirche zu Berthelsdorf geleitete Abendmahlsfeier. Anwesend war Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der seit 1722 auf seinem Gut Berthelsdorf „Religionsflüchtlingen aus der Böhmischen Brüderkirche“ Zuflucht gewährte und ihren Siedlungsplatz „Herrnhut“ nannte. Johann Andreas Rothe war im Mai 1722 von ihm als Pfarrer nach Berthelsdorf berufen worden. August Gottlieb Spangenberg dagegen hatte Zinzendorf erst 1728 persönlich kennengelernt, ihn mehrmals besucht und sich schließlich erst 1733 in Herrnhut niedergelassen. Anmerkung: Berthelsdorf ist seit dem 1. Januar 2013 Ortsteil der ostsächsischen Stadt Herrnhut, die 1929 das Stadtrecht erhalten hatte. Hier befindet sich auch der Sitz der in 35 Ländern aktiven evangelischen Gemeinschaft.

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