Montagmorgen. Die Sonne scheint und es ist kalt. Die ganze letzte Nacht hindurch hatte es so ausdauernd geschneit, dass nun alles weltliche von einem betäubenden Weiß bedeckt ist. Und obwohl Tom sehr müde ist und sein Bewusstsein noch halbwegs unterm Kopfkissen steckt, macht er sich bereits auf den Weg zu seiner Lieblingsbäckerei.
Als er an einem mannshohen Stromkasten vorbeikommt, streicht er mit seiner rechten Hand drüber und nimmt einen großen Batzen Schnee mit. Mit nur wenigen Handgriffen formt er eine handballgroße Schneekugel daraus und knallt sie an die Heckscheibe eines Ford Granada. „Komm mal her, Freundchen!“ brüllt ein mittelalter Mann Tom von der Seite an, der im gleichen Moment aus dem anliegenden Garten auf den Gehweg springt und sich vor Tom aufbaut und ihn gleich am Ohr packt: „Ahrrr! Sie tun mir weh, Mann!“
Der Mann lässt aber nicht locker: „Im Sommer hättest du mir Dreck in den Auspuff gesteckt. Ist es nicht wahr?“ „Nein, verdammt! Es tut mir Leid!“ Der Mann lässt los und pufft Tom noch kurz in die rechte Seite. „Wie? Es tut dir Leid. Das hast du wohl nicht gewollt?“ „Nein, Sir! Ich träumte noch und dachte nicht.“
„Hö-hö-hö-hö … ! Ich träumte noch und dachte nicht!“ Der Mann schwingt mit seinen Hüften und äfft Tom kurz nach, legt aber gleich wieder einen Ton auf, der
es wirklich gut mit Tom meint: „Weißt du, Junge, lass gut sein! Mir gehört ja das Auto gar nicht.“ Der Mann wird leiser: „Es gehört dem alten Friedrich! Du, der hätte da vielleicht ein Fass aufgemacht. Seit dem Tod seiner Mutter trinkt er ja jeden Tag! Ich sage dir, Junge, wenn da was mit seinem Auto gemacht wird … .“
Er fährt sich mit seinem linken Zeigefinger am Hals entlang – und reißt weit wie das Meer seine blauen Augen auf: „Wird’s eng!“
„Ok, Sir! Haben Sie vielen Dank für den Tipp. Ich spiele einfach nicht mehr mit Schnee!“ Der Mann grinst und nickt. „Weißt du, Junge: Jeden Tag eine gute Tat, dann wird der Abend dein Freund! Merk dir das, oder von mir aus, schreib es dir auf. Warte!“ Der Mann holt einen Zettel und einen Stift aus seiner gelben Cordjacke, gibt beides Tom und stützt sich in halber Hocke mit den Händen auf die Knie. Tom schreibt sich den Tipp gut leserlich auf.
„Ach, sieh mal einer an! Hier müssen Katzen gekämpft haben.“ Der Mann sieht unter sich verschiedene Katzenpfotenabdrücke im Schnee. „Naja, wie die Tiere, so der Mensch. Mensch, ich muss ja weiter!“ Jetzt freut sich Tom. Zum Abschied schüttelt der Mann ihm noch die Hand. „Schön, dass wir uns kennen gelernt haben. Ist es nicht wahr?“ „Jaja. Hat mich auch sehr gefreut!“
Beide nicken sich zu, nur Tom verzieht dabei auch etwas seinen Mund. Aber er freut sich dennoch, denn nun kann er endlich seinen begonnenen Weg vollenden. Er läuft also weiter in die Richtung der Bäckerei, in der er mit Frau Meinert zu Kaffee und Kuchen verabredet ist. Da kreuzt plötzlich von links kommend eine junge Frau seinen Weg. Sie läuft allerdings ein bisschen schneller als er, so dass sie sich nicht ins Gehege kommen. Hinter ihr her laufend betrachtet er ihre grau-gelb gestreifte Wintermütze, die lustigen Bommeln an den Stiefeln und findet schnell Gefallen an der kleinen roten Handtasche in ihrer linken Hand.
Toms Augen werden dabei zunehmend schmaler, er schaut ihr mit stetig sturer werdendem Blick nach, läuft immer schneller, holt sie ein – und stellt ihr ein Bein! Doch noch während sie zu fallen droht, fährt sein rechter Arm von hinten um ihren Oberkörper herum und zieht sie so zurück zu sich in den sicheren Stand.
„Wow! Das hast du echt toll gemacht! Wie heißt du?“ Sie streicht sich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht und staunt ihn aus blauen Augen an: „Äh … . Sag Tom, dann stimmt es!“ Sie grinst und schüttelt den Kopf. „Tom, ja, ich heiße Tom!“
Tom schaut verschämt zu Boden und entdeckt: „Ach! Sieh mal, du hast deine Brille verloren.“ „Nein, ich hatte ja gar keine Brille auf. Sie muss wem anderen gehören!“ Tom hebt die Brille trotzdem auf und betrachtet sie sich ganz genau: „Hmm. Komische Brille. Mit kleinen abstehenden Sonnenstrahlen.“ „Na, vielleicht gehört sie ja einer Malerin?“ sagt Anne und reibt sich das Kinn. „Nein, glaub ich nicht. So was trägt doch keine Künstlerin!“ „Aber doch vielleicht jemand, der sich für Kunst interessiert?“
Anne strahlt, sie hat sichtbar Freude an diesem Gedanken. Doch Tom überlegt weiter: „Oder eine junge Künstlerin, die noch nicht ganz weiß, was sie genau machen soll. Eine, die sich erst noch als Künstlerin finden muss.“ Anne staunt aus großen Augen Tom an, das bringt Tom in Fahrt: „Ja, genau! Eine, die noch nichts Nennenswertes vorzuweisen hat, aber trotzdem schon mal aus dem Rahmen fallen will. Und wir haben sie jetzt überführt!“
Doch plötzlich hält Tom inne und schaut wie verwandelt mit todtraurigen Augen wieder in den Schnee: „Naja, oder sie gehört bloß jemandem, der Jazz mag.“
„Nein! Ich mag keinen Jazz!“ Anne schaut ihn finster an. „Aha! Dann ist es ja doch deine Brille.“ „Ach, Mensch, ertappt.“
Anne verdreht zuckersüß ihre Lippen, während Tom ihr mit flatterndem Herzen und erhobenem Zeigefinger in ihre weit geöffneten Augen hinein blinzelt.
Windlustverlag
René Seim
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Ein Kommentar zu “Drei Menschen an einem Schneetag, eine Kurzgeschichte von René Seim”
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Hat mir sehr gut gefallen.super geschrieben. Ich kenne auch eine Anne auf künstlerischen Wegen rumturnt. Die Kurzgeschichte lässt sich sehr gut lesen.