Eine Geschichte über Nachbarschaft

Das, was der Frost von den Obstblüten übrig gelassen hat, setzt dem grauen Himmel trotzig ein paar Farbtupfer entgegen, hin und wieder erschüttert Zuggedonner die Gartenidylle des Einfamilienhauses direkt an den Bahngleisen in Alttrachau. Auf dem Hof steht ein Grill, darum gruppieren sich ein paar Menschen. Neuankömmlinge werden herzlich empfangen, selbst der jüngste Gast der Veranstaltung, der kuschelig eingepackt im Kinderwagen liegt, hat für jeden der Umstehenden ein Lächeln übrig. Nun kommt Valentina aus dem Haus, eine lebhafte ältere Dame mit intensivem Blick aus eisblauen Augen. Sie wird besonders freudig empfangen, denn die 72-jährige Ukrainerin ist der Ehrengast dieses Abends.

Eine Pause vom Kriegsalltag

Die Ereignisse, die hier hin geführt haben, begannen mit einem Artikel in der britischen Tageszeitung The Guardian, der anhand einer Zugreise die aktuelle Lage in der Ukraine abbildet und dabei die Geschichten verschiedener Menschen erzählt. Einer davon ist Valentina Vinichenko, die in Saporischschja lebt – der letzten Station vor der Frontlinie, die die Züge in Richtung Russland anfahren.

Ein Alltag voller Angst, von der die pensionierte Fremdenführerin jedoch gar nichts wissen will. Sie ist erklärte Patriotin, glaubt an den Sieg der Ukraine und leitet eine Gruppe, die Tarnnetze für die Armee knüpft. Der Artikel spricht auch ihr Gedankenspiel an, einfach mal in den Zug Richtung Westen zu steigen, um weit weg eine Pause von all dem Lärm, den Explosionen und den Sirenen zu machen.

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He/Ro in Tante Ju am 9. Januar


Und hier kommt Anja ins Spiel. Bewegt von der Geschichte schrieb sie dem Journalisten des Guardian und lud, jenseits aller Sprachbarrieren, Valentina kurzerhand nach Pieschen ein. Gemeinsam mit der Nachbarschaft, die über den Hufewiesen Verein vernetzt ist, organisierte sie Unterbringung und Programm für zwei Wochen.

Los ging es mit einem gemeinsamen Abend, an dem zum Glück ein älterer Herr, Teil der Nachbarschaft, mithilfe seiner Russischkenntnisse durch Übersetzung sogar eine unmittelbarere Möglichkeit zum Austausch bot. In den darauffolgenden Tagen besichtigte Valentina auf eigene Faust die Innenstadt, traf sich mit verschiedenen Leuten aus dem Viertel und malte im Atelier von Mandy Friedrich ihr allererstes Ölgemälde.

Under the umbrella

Was jedoch nicht heißt, dass künstlerische Arbeit neu für sie gewesen wäre: die Tarnnetze, die sie gemeinsam mit ihrer Gruppe knüpft, landen nicht immer über einem Panzer, sondern auch manchmal als Teil einer Collage auf einer Leinwand. Die so entstandenen Werke haben es schon in Ausstellungen von Museen in Saporischschja und Kiew geschafft; die Pieschener Nachbarschaft versucht nun, Kontakte zu Vereinen und Kunstinitiativen herzustellen, um vielleicht auch in Dresden eine Ausstellung zu ermöglichen.

Außerdem integrierte sich Valentina tatkräftig in die Gemeinschaft; und zwar vom ersten Tag an, an dem es galt, die vom Sturm verursachten Schäden zu beseitigen. „Sie war supertoll am Häcksler“, lacht Anja in Erinnerung an den Tag, der, obwohl der Kalender das Gegenteil behauptet, ewig her zu sein scheint, so stark ist das Gefühl, sich schon gut zu kennen.

Nun werden die Geschenke überreicht; ihr Gast habe ihnen so viel gegeben, nun wolle man auch etwas schenken. Wir sitzen alle zusammen um einen Tisch, werden fürsorglich bewirtet und alle erzählen von der Zeit mit Valentina. Sie bekommt einen Schirm überreicht, bedruckt mit Dresdner Stadtwahrzeichen, als Souvenir und gleichzeitig Anspielung auf ihre Tarnnetzkunst-Gruppe, die sich „Under the umbrella“ nennt. Und für die Arbeit derselben Gruppe wurde Geld gesammelt – um Stoff für neue Tarnnetze zu kaufen.

Das Geschenk stößt auf Begeisterung. Foto: Elisabeth Renneberg

Das Geschenk stößt auf Begeisterung. Foto: Elisabeth Renneberg

Dazugehören ist alles

Spätestens jetzt fühle ich mich irgendwie merkwürdig. Wieso sitzen diese ganzen lieben Menschen, die alle hoffen, der Krieg möge bald vorbei sein, da und nicken zu Valentinas Patriotismus? Die neu gewonnen Bekannten überschlagen sich in Lob darüber, wie die Netzknüpferin ihre Werke präzise an verschiedene Panzer anzupassen weiß. Finde nur ich es absurd, wie in dieser behaglichen Küche im Kleinen, genauso wie in den Medien und dem Bundestag im Großen, mit dem Thema Krieg umgegangen wird?

Wann ist der eigentlich so selbstverständlich geworden; seit wann geht es nicht mehr darum, darüber nachzudenken, wie eine friedlichere Welt zu verwirklichen sei, sondern nur noch darum, für oder gegen wen wir uns stellen; wer Teil der „guten, demokratischen Welt“ ist und wer eben zwangsläufig bekämpft werden muss? Ist schon irgendwie bequem, die Vorstellung, es seien ausschließlich die anderen, die Gewalt ausüben und wir nur die, die sich und ihre Nächsten – eine Gruppe, die sich anhand unterschiedlicher Kriterien regelmäßig neu definiert – schützen.

Wann wurde Frieden stillschweigend als Schwärmerei, als zwar lobenswertes, aber unerreichbares Ideal abgetan, um nur bloß die Zusammenhänge, das eigene Handeln, unseren eigenen (Wohl-)Stand in der Welt nicht hinterfragen und damit gefährden zu müssen? Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn ihre Solidaritätsbekundungen aus Waffenlieferungen bestehen? Es wurde Geld gesammelt, um Valentina und damit indirekt die Ukrainische Armee zu unterstützen. Was, wenn der Gast aus Russland gewesen wäre?

Frieden als Utopie

Gerade ein paar Tage zuvor habe ich eine Rede von Rosa Luxemburg von 1911 gelesen, in der es genau um dieses Thema, die Stellungnahme zum Krieg geht, auch wenn es damals natürlich ein ganz anderer war. Sie bezeichnet den Versuch, Frieden innerhalb des kapitalistischen Weltsystems zu erreichen als „eine kleinbürgerliche Utopie“, weil dieses System in seiner inneren Logik eng mit dem Militarismus zusammenhänge.

Die zu der Zeit aufkommende Idee der Vereinigten Staaten von Europa lehnte sie ab, mit der Begründung, so würden, anstatt Fronten abzubauen, nur andere geschaffen. „Nicht die europäische Solidarität, sondern die internationale Solidarität, die sämtliche Weltteile, Rassen und Völker umfasst, ist der Grundpfeiler.“

Wenn ich darin eine klarsichtige und konsequente Logik erblicke, die so unbequem wie aktuell ist, werde ich wohl als verrückt oder wenigstens als radikal bezeichnet. Nun, tatsächlich bin nicht einmal ich so naiv, an das Herannahen einer auch nur ansatzweise gerechteren Welt zu glauben, aber ist das ein Grund, das Eintreten für den Wunsch danach zu verraten?

Ich schiebe die Gedanken an Rosa beiseite und frage Valentina, beziehungsweise lasse den netten Herrn, der nun auch für mich übersetzt, fragen, was denn ihr schönstes Erlebnis in den zwei Wochen gewesen sei. Sie antwortet, sie sei total überrascht und erfreut gewesen über die Deutsche Gastfreundschaft; wie positiv und offen und optimistisch die Menschen hier seien. Sie liebe Deutschland. Und mir, mir schläft jetzt nun wirklich fast das Gesicht ein, weil ich überhaupt nicht weiß, wie ich reagieren soll.

Auf der Suche nach der Bedeutung von Gastfreundschaft

Ja, das stimme schon, hilft mir der Übersetzer aus meinem verlegenen Schweigen, die Leute hier seien wirklich nett und gastfreundlich, wenn man sie erst einmal näher kennenlerne. Und, mit einem Seitenblick auf Valentina, „dort“ ja genauso. Okay, frage ich mich, und auf welches Volk der Welt trifft das bitte nicht zu? Natürlich erscheinen die Menschen eines Landes nett, wenn man von den Exemplaren umgeben ist, die – was leider nicht der Regelfall ist – weltoffen und großzügig sind. Während ebendieses Land auf politischer Ebene darüber diskutiert, wie man Schutzsuchende am besten untereinander hin- und herschieben, oder besser noch ganz abweisen kann.

Warum können wir, wenigstens in dieser Runde, nicht die Gemeinsamkeiten betonen; das Menschsein, anstatt der der Unterschiede, der Nationen, der Klischees? Warum nicken wir zu Patriotismus? Patriotismus ist gefährlich, egal von wem, egal aus welchem Land, wieso gibt es darüber trotz allen Geschichtswissens und trotz unserer Fähigkeit zur Empathie noch keinen Konsens?

Im Artikel im The Guardian wird betont, Valentina spreche, obwohl ihre Eltern aus Russland stammen, im Alltag bewusst nur Ukrainisch. Hier zu Besuch hat sie dann doch Russisch gesprochen, einfach weil sie sich in dieser Sprache wenigstens mit ein paar Leuten ohne Umwege und technische Hilfsmittel verständigen konnte. Wenn ich über die Geschichte von Valentina in Dresden nachdenke, erblicke ich darin; in diesem Hintersichlassen nationaler Feindseligkeit, wenn auch (oder gerade?) aus rein praktischen Zwecken, ein Zeichen der Hoffnung. Weit mehr als es Kunst, an der Blut klebt, je sein könnte.

5 Kommentare zu “Eine Geschichte über Nachbarschaft

  1. Harro Harken sagt:

    Tja, als einer dieser „lieben Menschen“ aka Naivlinge, die bei diesem Treffen anwesend waren und als Gastgeber für Valentina in unserem Haus, habe ich naturgemäß eine etwas andere Sicht auf den Besuch.

    „Patriotismus“ (den die Autorin anscheinend mit Nationalismus verwechselt) habe ich nicht dabei herausgehört, wie auch, wenn das eigene Land überfallen wird und man durch seine Arbeit (Tarnnetze stricken) verhindern kann, dass Nachbarn, Freunde oder Verwandte sterben?
    Eher respektvolle Höflichkeit, das macht man so wenn man Gäste hat, erst recht, wenn sie gerade aus einem Kriegsgebiet kommen und stellt seine eigene Einstellung hinten an. Am wenigsten belehrt man sie aus dem friedlichen Deutschland, wie Krieg oder Frieden zu werten sei.

    In Deutschland nimmt man man gern Stellung zu einer Kriegspartei, Israel oder Palästina, Russland oder Ukraine. Je weiter weg, desto belehrender und apodiktischer. Welchem Land die Autorin die Treue hält, ist leicht erkennbar, aber das ist jedermanns Recht in einer Demokratie.

    Die Menschen die Valentina eingeladen und schlussendlich sogar etwas gespendet haben (shocking) wähnen sich auf der Seite der Schwächeren, nicht auf der, der Aggressoren. „Was, wenn der Gast aus Russland gewesen wäre?“ Seltsame Frage, dann wäre er natürlich nicht hier gewesen.

    Die etwas angestrengten Absätze über Rosa Luxemburg habe ich nur überflogen, Neustädter Kaffeehaus-Kommunismus halt, jeder hat wohl irgendwo ein paar hochtrabende Zeilen in der Schublade, die bei irgendwelchen passenden oder unpassenden Gelegenheiten mal rausgehauen werden müssen 😉

    Wenn Valentina und ihr Team in Saporischschja in freien Zeiten statt olivgrüner Plastikblätter bunte Bildchen auf die Netze knüpft, liegt die „Kunst“ mit Sicherheit nicht in der Farbzusammenstellung oder der gelungenen Abstraktion, sondern in genau dieser Kombination: Mitten im Krieg muss man anscheinend bunte, vielleicht sogar kitschige Dinge erstellen, sonst geht man kaputt.

    Anders als die Autorin möchte ich mir aber gar nicht anmaßen, vom warmen, gemütlichen Schreibtisch aus die Situation in der Ukraine auch nur ansatzweise nachzuvollziehen.
    Ich habe in dieser Woche eher viel zugehört als zu dozieren und mit dem deutschen Zeigefinger zu winken.
    Und viel gelernt. Vor allem Demut und Hochachtung.

  2. Anja Osiander sagt:

    Danke für die klaren Worte von Harro Harken! Auch ich finde den Beitrag von Frau Renneberg gründlich mißlungen.
    Drei Ebenen werden vermischt: die Beschreibung des Abends in Alttrachau, die persönliche Meinung der Autorin und allgemeine Reflektionen über die Möglichkeiten und Bedingungen für Frieden. Auf keiner der drei Ebenen wird die Darstellung nachvollziehbar bis zu einem logischen Schluß geführt. Die argumentative Verknüpfung zwischen den drei Ebenen gelangt über vage begriffliche Assoziationen nicht hinaus.
    Dazu ist der Beitrag schlampig recherchiert: Der erwähnte Verein nennt sich „Hufewiesen Trachau“ (im Plural). Der Übersetzer Herr Lorenz war beim Willkommensabend für Valentina gar nicht dabei.
    Selbst wenn man der Autorin zugute hält, daß sie die fröhliche Stimmung bei Abschiedsabend für Valentina nicht verderben wollte, dann wäre es ein Gebot journalistischer Sorgfalt gewesen, Fakten im Nachgang zu klären. Bei einem solchen Gespräch im Nachgang wäre auch Gelegenheit gewesen, das eigene Unbehagen über Spenden für Tarnnetze in eine kluge, offene Frage zu überführen und eine echte Auseinandersetzung mit Realitäten und deren Wahrnehmung zu eröffnen. Auf den für den folgenden Tag angekündigten Anruf von Frau Renneberg warteten wir aber vergeblich.
    Ich wünsche mir ein Stadtteilportal, dessen Beiträge auf solider Kenntnis von örtlichen Gegebenheiten und Persönlichkeiten, auf gründlicher Recherche und auf einer klaren Trennung zwischen Berichterstattung und Meinungsäußerung aufbauen. Anders gesagt: Ich wünsche mir guten Journalismus für pieschen aktuell. Davon sind Elisabeth Renneberg und der neue Herausgeber Jan Frintert zumindest in diesem Beitrag weit entfernt.

  3. Jan Frintert sagt:

    Hallo Frau Osiander, ich habe das fehlende „n“ der Wiese nachgetragen. Vielen Dank für den Hinweis.

  4. Schweesdo Onie sagt:

    @Anja Osiander
    Vielen Dank für Ihre Analyse, die mir klar gemacht hat, warum ich beim Lesen des Artikels ein für mich so schnell nciht greifbares Unbehagen spürte. Auch ich wünsche mir guten Journalismus für dieses Stadtteilmagazin, und die von Ihnen benannten Fehler sind zweifellos ärgerlich. Aber ich möchte doch kurz hinterfragen, ob man den hohen Maßstab des journalistischen Berufsethos so ohne weiteres hier anlegegen sollte. Ich weiß nicht, ob Frau Renneberg professionelle Journalistin ist, ich habe ihren Text nicht als Bericht unter Bemühung um größtmögliche Neutralität aufgefasst. Es war ein stark vom inneren Empfinden der Schreiberin erfüllter Text, stellenweise ans Sentimentale grenzend. Mir persönlich liegt ein solcher Schreibstil überhaupt nicht und ich schließe mich inhaltlich sowohl Ihnen als auch „Harro Harken“ an. Trotzdem bin ich dankbar, dass pieschen-aktuell auch vor solchen Themen nicht zurückschreckt. Wenn die Alternativen wären: einen Text zu diesem Thema in dieser Form bringen- oder ihn eben nicht bringen, bin ich doch fürs Bringen- und die anschließende Diskussion…

  5. Rainer Witz sagt:

    Sehr gute Antwort @Schweesdo Onie! Ich denke auch, lieber über einen Beitrag diskutieren als gar kein Beitrag!
    Das man bei einem solchen Konflikt wie in der Ukraine, wo es keine Diskussion über „gute Seite / böse Seite“ geben kann, so wie in dem Bericht schreiben kann, bleibt auch mir ein Rätsel.

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