Diese Kirche ist aus einer anderen Welt: Gebaut wie ein großer Stein aus vielen kleinen Steinen, kantig, alles gerade bis auf die grüne Uhr. Ihr Bestes könnte der Garten sein, aber es ist ein Pfarrgarten. Darin darf man nichts pflücken, weder Blumen noch Obst, und nur einmal im Jahr, zum Kirchweihfest, über die Wiesen gehen. So selten macht keinen Spaß.
Ich sehe die Kirche zuerst von unten: Wo die Erwachsenen sich immer wieder hinknieen, kann ich sitzen, also mit dem Gesicht nach hinten, im Blick oben Mutter und Großmutter. Großvater kommt nur Weihnachten mit. Wenn wir in einer vorderen Reihe sitzen, kann ich auch die Orgel sehen. Schön. Doch eine Stunde lang auszuhalten an diesem Platz, ist eine ziemliche Anstrengung für ein kleines Kind vom zweiten Lebensjahr an, jeden Sonntag. Dabei ist die Kirche ein sehr interessanter Ort! Warum die Leute so lange stillsitzen wollen, kann ich nicht verstehen. Rundherum ist so viel zu sehen: Die Seitenaltäre, die Säulen mit den Heiligen daran, die dunklen Beichtstühle, viele schöne Blumen bei der heiligen Maria – nur ein paar bei ihrem Mann, dem Jesusvater. Seinem Andenken ist die Kirche geweiht. Der Fußboden ist ein endloses Muster, an den Wänden hängen Bilder und Leuchter, hoch oben die Fenster lassen spärlich Licht herein. Was vorn am Altar zugeht, ist weit weg. Schön klingt es, wenn die Männer dort stehen und singen.
Christine Ruby, geboren 1948 in Dresden, hat ihre Kindheit und Jugend in Pieschen und Trachau verbracht. Nach der Schule lernte sie den Beruf einer Mechanikerin, dann kam eine Ausbildung als Dekorateurin hinzu. Später war sie als Redakteurin tätig. Sie schreibt Lyrik und Geschichten. Bereits erschienen ist von ihr der Gedichtband „Späne“. Christine Ruby wohnt in Radebeul.
Am 25. Januar 2024 liest sie aus ihren Büchern „Späne“ und „Splitter“ im Optiksalon bei Josephine Ophorst Optik, Radebeul, Gellertstraße 21.
Die Geschichte „St. Pieschen“ ist eine von 24 aus dem 2023 erschienenen Buch „Splitter“. Die Redaktion von Pieschen Aktuell sagt „Herzlichen Dank“, dass wir sie hier veröffentlichen dürfen.
Der heilige Raum ist mit Ornamenten ausgemalt. Im Halbrund hinter dem Altar sollen wohl Säulen angedeutet sein. Nicht für mich! Ich sehe eine ehrwürdige Gruppe von Heiligen, Bischöfen und Priestern dort stehen. Sie passen auf, wie wir die Messe feiern. Angesichts ihrer Würde kann keiner tuscheln, lachen oder Zettelchen weitergeben. Erst nach dem Ausläuten des Gottesdienstes ist der Austausch kleiner Mädchengeheimnisse erlaubt.
Die Kirche ist immer kalt, im Sommer wie im Winter. In der Christnacht ziehen wir alle neuen Wintersachen übereinander, dann ist es auszuhalten. Auch im Sommer kann man nicht mit nackten Armen und ohne Strümpfe darin bleiben ohne zu frieren. Wenn wir Mädchen in unseren dünnen Kleidchen einmal kurz hineingehen, die Maria von Fatima zu besuchen, halten wir es nicht lange aus. Dabei ist sie so schön, aus hellem Holz und weiß und blau bemalt. Aus schmalen, ruhigen Augen schaut sie auf uns kleine Sünderinnen herab; die zarten Hände aneinandergelegt, nicht gefaltet, und spricht uns von allen Kümmernissen los. Dass wir in der Schule geflunkert haben, dass wir neidisch gewesen sind auf die Rollschuhe der Nachbarskinder und der Religionsunterricht bei
Schwester Walpurga uns nicht wirklich gefällt. Wir tragen wortlos unsere kleinen Ängste zu ihr – sie wirkt immer verständnisvoll. Die kleine Seitenkapelle, in der sie wohnt, muss voller Geständnisse, Bitten und Geschichten sein. Bringen vielleicht die großen Frauen ihre Sorgen auch zu ihr? Gehen sie getröstet oder ratlos?
Neben ihrer Grotte sind Tür und Treppe zur Empore. An großen Feiertagen gibt es hier viel Musik. Orgel, Solisten, Kirchenchor – die ganze laute Welt des Gotteslobes, dicht gedrängt die Menschen mit Stimme auf der Orgelempore, mein liebster Ort. Unbemerkt schleiche ich mich nach oben. Das ist eigentlich nicht erlaubt. Aber so ein kleines Mädchen fällt nicht auf. Eng stehen Frauen und Männer in ihren Sonntagssachen und blicken auf die Bewegungen der zierlichen Organistin, die Pembaur heißt. Sie ist so klein, dass sie heftig auf der Orgelbank rutschen muss, um an die Pedale zu gelangen. Dabei trägt sie winzige Pantöffelchen mit dünnem Absatz – eindeutig die von Aschenputtel.
Die kleine Frau bringt den Chor zum Schwingen, dass die ganze Kirche bebt. Mit dem Orgelklang hilft sie nach. Wenn ich mich zwischen die Sängerinnen dränge, spüre ich das angespannte Bemühen der Frauen, schöne, laute Töne aus ihren Bäuchen und Brüsten heraufzuholen. Es klingt gewaltig! Klar für mich: Da oben will ich auch einmal mitsingen.
Als ich es hätte versuchen können, gibt es keinen Chor mehr. Aber die Orgel. Längst spielt nicht mehr die kleine Frau darauf, sondern ein alter freundlicher Herr, ein Lehrer im Ruhestand. Sehr bedächtig geht es zu in seiner Musik, sehr harmonisch. Ein ehrlicher Arbeiter vor dem Herrn. »Der alte Thiene« ist immer da, wenn die kleine Gemeinde Unterstützung beim Kirchgesang braucht, sonntags jedenfalls. In der Woche kommt er nicht. Dann weht ein armseliger Singsang durch die Halle, von wenigen Frauen, die vor ihrem Tagwerk zur Messe kommen – vielleicht nur, um den Pfarrer nicht in seiner morgendlichen Pflicht allein zu lassen?
Und dann die »Religiöse Kinderwoche«. Irgendein Erwachsener hat sich ausgedacht, weil Kinder im Sommer so lange Ferien hätten, dass sie davon eine Woche gut und gern in der Kirche verbringen könnten. Hat der sein Gedächtnis verloren? Wie sollte es morgens um acht in der kalten Kirche besser sein als draußen in Hof und Garten? Folgsam gehen wir trotzdem hin. Als hätte einer meinen Widerwillen geahnt, kündigt sich meine Erlösung an: Herr Thiene mag nicht täglich für die Kinder orgeln. Als Ersatz schlägt er mich vor. Mich! Freilich, ein Klavier, ein Flügel waren mir vertraut. Aber eine Orgel? Wohin mit den Füßen, wenn man Angst hat vor dem ungewohnten Pedal? Register und Manuale hatte ich bisher nur hingerissen angestaunt. Nun soll ich selbst auf die Bank und alles bedienen?
Herr Thiene macht mir Mut, wie nur ein alter, weiser Mann es kann. Ein bisschen Unterricht bei ihm zu Hause, etwas Notenlesen und die Ermahnungen an die junge Musikantin, nicht zur eigenen, nur zur Ehre Gottes zu spielen. Mit pochendem Herzen gehe ich mit ihm zum ersten Mal auf die Empore, die Kirche ist leer, er schaltet den Wind an, und das ist, als ob ein großer freundlicher Drachen tief durchatmet. Dass die Tasten meinen dünnen Kinderfingern ebenso gehorchen wie den wissenden des Lehrers – welch umwerfende Überraschung! Diese Töne lassen tatsächlich meinen kleinen Mädchenkörper beben.
Doch Hinweise des routinierten Spielers beruhigen mich schließlich. Wie sagt er: »Adagio sei dein ganzes Leben. A tempo folge dir das Glück. Und will es piano dir entschweben, so hol es forte dir zurück.« So steht es auch in seinem Arbeitszimmer geschrieben. Und ich soll es mir zum Lebensmotiv machen – ein bisschen zu langsam, finde ich.
Das Ganze ist verlockend: Ich kann mir Lieder aussuchen, die mir gefallen, dazu noch die Register ziehen, die ich mag. Die Macht der Musik – hier habe ich sie zum ersten Mal sehr deutlich gespürt. Sie singen tatsächlich mit, wenn ich spiele! Und der Blick zum Pfarrer durch den Spiegel über dem Notenpult klappt wunderbar. Diese Art von Gottesdienst ist mir willkommen. Zum ersten Mal fühle ich mich am richtigen Platz.
Lange Zeit später, ich gehöre nicht mehr zur Gemeinde, komme ich wieder nach St. Josef. Von einem spektakulären Umbau durch den Bildhauer Friedrich Press habe ich gehört – ich muss hin, auch wenn die Erinnerung mich peinigen würde. Wo auch immer ich seine Plastiken aus rohem Holz sehe, gefallen sie mir sofort. Sie entsprechen meinem puristischen Schönheitsgefühl wie sonst kaum etwas. Nun eine ganze Kirche von ihm gestaltet – wie wunderbar! Woher hatte er gewusst, was nur meine Kinderaugen in die dekorative Malerei gedeutet hatten?
Die Apsis bevölkert von Gesichtern, schlicht gebaut aus Ziegelsteinen, aber gut erkennbar, Wächter des Geschehens im Raum. Statt des kalten Fliesenfußbodens jetzt Holzbohlen, die Bänke nicht mehr so düster dunkelbraun. Überhaupt scheint mehr Licht in die Kirche zu gelangen. Schade aber um den schönen Hauptaltar. Eine Neuerung hat ihn überflüssig gemacht: Der Priester darf nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde zelebrieren. Warum? Ist er unser Vorsager, unser Spielleiter? Betet er nicht zu dem gleichen Gott wie wir? Sind wir nicht zusammen die Gemeinde, die vor Gott tritt? Keiner kann mir das erklären.
Ein Blick nach hinten ist noch schmerzlicher: Die Orgel ist weg. Dafür steht jetzt ein lächerlich kleines elektronisches Ding seitlich vom Altar, gut für sich gern präsentierende Jungkirchenmusiker. Da hat nun der Friedrich Press extra die Wächter eingebaut, aber manchmal scheinen sie geschlafen zu haben.
Notwendiger Nachsatz: Zeit ist vergangen, und die Kirche hat nach großem Bemühen der Gemeinde wieder eine Orgel. Sie ist kleiner als ihre Vorgängerin, erfüllt aber ihre Aufgabe ebenso beherzt zur Freude aller.
Aus „Splitter“ Geschichten von Christine Ruby, erschienen in der edition petit bei Typostudio und Verlag Manfred Richter, Dresden-Loschwitz. 2023, mit Fotos von Christoph Reichelt. ISBN 978-3-941209-82-4
3 thoughts on “Eine Geschichte von Christine Ruby: Sankt Pieschen”
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Interessanter Text. Allerdings wird die Kirche, seit ich sie kenne (>30 Jahre), mit „f“ geschrieben, anders als das Krankenhaus.
Der Innenraum der St.-Josef-Kirche ist einzigartig und besonders.
Hallo Luisa,
vielen Dank für das feed back! Wie konnte das nur passieren? Es stimmt! Der Josef wird hier mit f geschrieben. Und das hätte ich wissen können. Gerne würde ich noch ein Bild anhängen mit dem alten Josefs-Altar, aber das geht gerade nicht.
Also mea culpa, ich bin betrübt, diesen Fehler gemacht zu haben!
Habe inzwischen gehört, dass in der Kirche wieder gebaut wird. Also neue Veränderungen. Ist ja gut, wenn das möglich ist.
Schöne Grüße
von Christine Ruby
Der Josef im Text ist repariert.