Abkühlung in Pieschen nicht in Sicht

Mit Müh und Not und völlig verschwitzt erreichten Franz Wiesler und sein Sohn Fritz den „Goldenen Anker“ an der Leipziger Straße 45 im Stadtteil Pieschen. In der Tür stand der Wirt Gustav Eichhorn. Er sah den beiden den Durst ins Gesicht geschrieben. „Kommt rein. Hier
drin ist es kühler und das Bier frisch.“ Man kannte sich, denn der Schmiedegehilfe Franz wohnte mit seiner Familie hier im Hause in der dritten Etage. „Erst mal kein Bier, Gustav. Ein Wasser wäre mir lieber und dem Fritzi kannst du eine Fassbrause mit Waldmeister geben.“
Beide leerten ihr Glas in einem Zug. „So, jetzt kannst du mir ein Bier geben.“

An diesem späten, immer noch hochtemperierten Nachmittag des 26. Juni 1902 verließen die Wieslers eine knappe Stunde zuvor das Herrenbad an der Elbe zwischen Marien- und Augustusbrücke. Da waren sie noch gut erholt nach dem zweistündigen Aufenthalt. Obwohl
sie zuvor fast eine Stunde in der Hitze des Tages warten mussten, ehe sie das Bad betreten konnten. Und diese Abkühlung war nach dem langen Rückweg dahin. Man hätte sich das Eintrittsgeld sparen können und gleich zum Gustav in den „Anker“ gehen sollen, dachte sich
Franz.

Der Gasthof „Goldener Anker“ in der Leipziger Straße 45. Foto: Archiv

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Es fehlte ein Freibad in Pieschen

Dieses wurde schon seit Jahren gefordert und auch immer wieder von den Stadtverordneten im Rathaus der Residenz versprochen. Auch die Presse war auf ihrer Seite. Gustav Eichhorn brachte das erste Bier, natürlich im Keller mit Eis gekühlt. „Ich habe hier die Ausgabe der
Neuesten Nachrichten vom 1. Mai. Da steht ein Artikel dazu drin.“ Franz Wiesler überflog ihn. „Genau so war es heute.“ Der Redakteur beschrieb die Odyssee der Wieslers, als wäre er dabei gewesen oder könnte Hellsehen.

Und dann gab er noch eine weitere Begründung für ein Bad in Pieschen. „Wie nötig der Dresdner Bevölkerung, hauptsächlich den Kindern öfteres, erleichterteres Baden ist, das ist unlängst wieder bei der schulärztlichen Untersuchung unserer Kleinen zu Tage getreten.“

Viel Gerede

Wirt Gustav Eichhorn stimmte ihm zu. Der sozialdemokratische Stadtrat, der Werkmeister Bienert, der wohnt nicht weit in der Nr. 39, hatte letzte Woche hier im Saal zu seinen Genossen darüber referiert. Er meinte, dass die Ursachen der kränkelnden Kinder in der anhaltenden Wohnungsnot läge. In der Zeitung hieß es dazu noch ausführlicher: „… das Zusammenpferchen der Familien in nur Stube, Kammer und Küche, oft sogar in noch weniger Räume infolge horrender, außer allem Verhältnis zum Einkommen stehender Preise und daraus weiter folgender ungenügender Ernährung; das alles zusammen muss ein trübes Bild schaffen.“

Die Neuesten Nachrichten hatten 1902 nach eigenen Angaben über 80.000 Abonnenten. Quelle: Archiv

Gustav grinste. „Diese Offenheit traut man diesem liberalen Blatt gar nicht zu.“ Franz leerte sein Glas und bestellte ein neues. „Trotzdem typisch Sozis. Die müssen aus jeder kleinen Angelegenheit gleich das ganze Kaiserreich samt Weltkapital infrage stellen. Dabei geht es doch nur um ein Freibad hier in Pieschen und in der Leipziger Vorstadt.“

Gustav stimmte zu. „Dabei hätte es der Stadtrat Bienert doch selbst in der Hand, das Thema bei einer Stadtratssitzung auf die Tagesordnung setzen zu lassen und für Abhilfe sorgen zu können. Den Dank der Pieschener hätte er und viele Wählerstimmen dazu.“ Franz schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Können, ja, können könnte er. Hätte der Kinder, wäre das Problem längst vom Tisch. Aber ein Freibad ist eben kein Kampfbad gegen das Kapital.“

Franz trank aus, ließ anschreiben und ging mit Sohn Fritz hoch in ihre kleine Wohnung, in der man es vor Hitze auch nicht aushalten konnte. Die Wieslers mussten noch sehr lange auf ein Bad in Pieschen warten. 1928 / 29 wurde von Stadtbaurat Paul Wolf das Sachsenbad an der Wurzener Straße errichtet. Wie die Geschichte weitergeht, ist bekannt. 1994 war Schluss mit dem Schwimmen im Sachsenbad. Und wieder fehlt ein Schwimmbad in Pieschen.

Unser Autor:
Der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb durchstöbert für seine Geschichten mit Vorliebe die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek.

Ein Kommentar zu “Abkühlung in Pieschen nicht in Sicht

  1. Trachauer sagt:

    Wissend, dass es dem „Dichter“ freisteht, unter anderem auch von geschichtlichen Fakten abzuweichen, seien mir doch nachfolgende Hinweise gestattet:
    Es steht geschrieben: „An diesem späten, immer noch hochtemperierten Nachmittag des 26. Juni 1902….“ und „Es fehlte ein Freibad in Pieschen.“
    Erstens: Schon fünf Jahre vor der Eingemeindung Pieschens nach Dresden, am 1. Juli jährt sie sich zum 125. Mal, hatte der Schiffseigner und Fährbesitzer Karl August Jacob (1851-1931) sein Elbestrand- und Kastenbad (gelegen unterhalb „Ballhaus Watzke“) eröffnet. Zweitens: Das mehrstöckige Mietswohnhaus Leipziger Straße Nr.45 mit der Gaststätte „Goldener Anker“ im Erdgeschoss stand nicht im Stadtteil Pieschen, sondern im Stadtteil Leipziger Vorstadt.

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