Wie ein Herbststurm rauschte Henriette Christiane Amalie Zocher, ihres Zeichens Haus- und Fuhrwerksbesitzerin vom Lindenplatz 17 (in Altpieschen, Lindenplatz Nr. 17, Erdgeschoss, eröffnete vier Jahre später das Lokal „Lindenschlösschen“ – Anmerkung des Autors), in das Büro der Beerdigungsanstalt „Zur Ruh“ an der Leipziger Straße 28 (aus Wohnungs- und Geschäftshandbuch für Pieschen, 1895/1896 – Anmerkung des Autors) im Vorort Pieschen. In völligem Schwarz gekleidet, plusterte sie sich vor dem Inhaber und Konkurrenten im Fuhrwerksgeschäft, Ernst Pietzsch, auf und ließ sich, kraftvoll ausatmend und mit einem Fächer Luft zu wedelnd, auf einen Stuhl nieder, der ob ihres Gewichts zusammenzubrechen drohte.
Einen Tag zuvor, am 21. August 1895, beschloss der Herrgott in seiner unendlichen Gnade, ihren Gatten und Geschäftsführer Max Richard Zocher zu sich zu rufen. Nicht dass Henriette mit dem da oben über dessen Entscheidung grollte. Das Gegenteil war der Fall.
Ein angemessenes Begräbnis
Ernst Pietzsch setzte seine berufsmäßige Mitleidensmiene auf und faltete seine Hände über dem Tisch. „Meine liebe Henriette, mein tiefstes Mitgefühl für das Ableben Ihres Gatten und des von mir sehr geschätzten Kollegen. Es ist ein unendlicher Verlust …“ Weiter kam er nicht. Nicht Tränen der trauernden Gattin hinderten ihn am Weiterreden, sondern die rot angelaufene und fast platzende Witwe. „Verlust?“, kreischte sie. „Sie wissen genau, was der Max für ein elender Hundsgriebel war. Sie waren ja oft mit ihm unterwegs.“ Pietzsch wurde wegen des Zornesausbruches in seinem Sessel immer kleiner.
Aber Henriette merkte wohl, dass sie sich zu sehr erregt hatte und versuchte erst einmal ruhiger zu werden. „Eigentlich hätte er es verdient, ihn mit einem Stein um den Hals in die Elbe zu werfen.“ Drohend richtete sie den rechten Zeigefinger auf ihr Gegenüber. „Ich weiß sehr wohl, dass ihr Beiden euch mit noch anderen Kumpanen in der ‚Quelle‘ auf der Leipziger 55 (aus Wohnungs- und Geschäftshandbuch für Pieschen, 1895/1896 – Anmerkung des Autors) habt volllaufen lassen. Und ich weiß auch, dass ihr euch mit zweifelhaften Damen eingelassen habt. Ein Glück für ihn, dass er sich nicht die französische Krankheit eingefangen hat. Zudem musste ich den Max daran hindern, auf der Pferderennbahn in Reick mein Vermögen zu verwetten. Aber nun zum Geschäft. Was habt ihr zu bieten?“
Pietzsch war froh über die Wendung des Gesprächs. „Wir haben achtzehn Klassen von Beerdigungen im Angebot. Die erste Klasse …“ Wieder wurde er unterbrochen. „Nix da. Keine erste Klasse. Die letzte hätte er verdient“, trotzte die Witwe. „Gnädige Frau. Sie wollen doch wohl kein Armenbegräbnis? Da würden sich die Honoratioren hier in Pieschen die Mäuler zerreißen.“ „Da haben Sie wohl recht. Also, erste Klasse nicht. Dann eben die zweite.“
Die Beerdigungsanstalt „Zur Ruh“ in Pieschen als gemeinnützige Anstalt bot Beisetzungen zu verschiedenen Tarifen an. Darin waren für Erwachsene die Gebühren für den Sarg, den Transportwagen, die Träger, das Schaufeln des Grabes und dessen Verschließen, die bürokratischen und urkundlichen Tätigkeiten u.a. enthalten. Es gab 18 Klassen für die Erwachsenen, die zwischen 343,20 Mark und in der letzten bei 27,70 Mark lagen. Die Kosten für die kirchliche Trauerfeier mit dem Pastor und die Totenbettmeister (ist der Vorgänger des heutigen Friedhofaufsehers und Chef der Totengräber – Anmerkung des Autors) waren nicht darin enthalten. Ebenso nicht die Kosten für die Heimbürginnen (In der Regel eine weibliche Person, die die Toten wäscht, anzieht und für die Beerdigung vorbereitet – Anmerkung des Autors).
Kinderbeerdigungen, die es auf Grund der hohen Sterblichkeit durch Kindbettfieber und vielerlei Krankheiten gab, kosteten mit Wagen ab 20 Mark, mit Bahre getragen, von 13,50 Mark an und ohne Bahre getragen von 8 Mark an. Pieschen hatte damals noch keinen eigenen Friedhof. Man benutzte den in Kaditz oder den St. Pauli-Friedhof im Hechtviertel von Dresden-Neustadt. Die Gemeinde in der Markuskirche am Markusplatz wurde von Pastor Friedrich Bernhard Planitz geführt.
Der Leichenschmaus
Ernst Pietzsch fasste wieder Mut, nachdem sich Henriette Zocher weitestgehend beruhigt hatte und man sich auf das Prozedere der Beerdigung, der Kirchenfeier und der Beisetzung auf dem St. Pauli-Friedhof geeinigt hatte. „Fehlt nur noch der Leichenschmaus“. Das war wie ein Stich ins Wespennest. Die Witwe wollte zur Explosion ansetzen. Doch der Inhaber der Beerdigungsanstalt „Zur Ruh“ mahnte
sie zu selbiger. Sie möge doch an ihren Blutdruck und das Herz denken und ob sie ihrem Manne so schnell folgen wolle. Das wollte sie natürlich nicht. Schließlich sei sie ihn gerade erst losgeworden.
Es sei nun mal Tradition, im Nachgang der Beisetzung mit den Trauergästen des Toten zu gedenken. Man müsse ja nicht seine Schandtaten rühmen. Und Pietzsch machte ihr klar, dass damit signalisiert werde, dass das Leben, also ihres, weitergehe und sie nicht allein gelassen werde. Auch könne sie dadurch Abstand gewinnen. Henriette nickte. „Aber nicht in eurer Stammkneipe. Ich bin für was Nobleres. Ich wähle den Deutschen Kaiser auf der Leipziger 30. Bereiten Sie schon mal was für 40 Leute vor. Lumpen lasse ich mich nicht, auch wenn das der Max nicht verdient hat. Alles nur wegen der Leute.“
Mit großer Erleichterung für Pietzsch rauschte die schwarze Witwe hoch erhobenen Hauptes und mit zerknittertem Gesicht zur Tür hinaus.
Der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb durchstöbert für seine Geschichten mit Vorliebe die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek.
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Toll erzählt! Vielen Dank dafür.