Aus dem Rathaus Pieschen: Nachttöpfe entleert man nicht auf Amtspersonen

„Haberkorn, wen haben wir als Nächsten?“ Ortsrichter Karl Luis Beeg* nippt an seiner Tasse und dem darin enthaltenen, inzwischen erkalteten Tee. Der so angesprochene bei der Ortsverwaltung angestellte Kopist schaute auf seine Liste. „Eine gewisse Emilie Grunewald aus der Concordienstraße 2, Herr Gerichtsrat. Ihres Zeichens Wäscherin.“

Das Ortsgericht von Pieschen trat monatlich zusammen, um die kleinen Unwägbarkeiten zu regeln und Vergehen gegen die Staatsordnung zu ahnden. Nur dieser Tag war ungünstig. Die sehr sommerliche, schwüle Hitze Anfang Juli des Jahres 1895 ließ den Schweiß der Anwesenden in Strömen, der Schwerkraft folgend, nach unten rinnen und unangenehme Gerüche im Ausschusszimmer des Rathauses verbreiten. Schutzmann Gustav Böhm führte die Aufgerufene herein und der Richter musterte sie von oben bis unten.

Verstöße gegen die Gemeindeordnung

„Kennen Sie den Gegenstand der Vorladung, Frau Grunewald?“ Die so Angesprochene setzte ihre unschuldigste Miene auf und verneinte. „Sie haben am 10. Juni dieses Jahres kurz vor Mitternacht den Inhalt ihres Nachtgeschirrs aus ihrem Fenster im zweiten Stock auf die Straße gekippt. War dem so?“ Emilie zuckte mit den Schultern und meinte, sich an solch einen Vorgang nicht erinnern zu können. Doch Richter Beeg fackelte nicht lange und präsentierte einen Zeugen, eine Amtsperson, den Reservenachtwächter Otto Andrä.

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Dieser erläuterte den Tathergang. Wegen Krankheit eines regulären Nachtwächters übernahm er dessen Rundgang. Als er an der Concordienstraße 2 ankam, landeten auf seinem Haupt und seiner Uniform die festen und flüssigen Inhalte eines Nachtgeschirrs. Als Andrä nach oben blickte, erkannte er die hier anwesende Wäscherin, die ihm auch aus Pieschen bekannt war und noch den Topf in der Hand hielt. Nun konnte Emilie Grunewald nicht mehr leugnen.

Im neuen Rathaus von Pieschen

Schutzmann Böhm nahm derweil auf einem Stuhl vor der Tür zum Ausschusszimmer Platz. Er war froh, die wenigen Jahre bis zur Pensionierung in einem so schönen Haus sein Dasein genießen zu können. Das im November 1891 eingeweihte neue Rathaus, der Ort unserer Verhandlung, trug den Ansprüchen der aufstrebenden Industriegemeinde und seiner immer wohlhabender werdenden Bürger, bei größer werdenden sozialen Unterschieden, Rechnung. Der Bau, dessen Grundsteinlegung ein gutes Jahr zuvor stattfand, verzögerte sich nicht nur terminlich, er wurde auch um ein Mehrfaches teurer. Neorenaissance war der Stil. Das Portal konnte sich sehen lassen.

In Parterre war das Kaiserliche Postamt mit Amtsvorsteher Stockstrom und seinen zehn Gehilfen und Postboten untergebracht. Daneben gab es eine Restauration. Diese dümpelte vor sich hin und wechselte häufig den Inhaber, bis sie 1898 endgültig schloss. Zur Zeit unserer Verhandlung war laut des Wohnungs- und Geschäftshandbuch für Pieschen von 1895 und des Adressbuches für Dresden und seine Vororte ein gewisser Ernst Behnisch der Restaurateur.

Die erste Etage belegten damals das Standesamt und die Büros für den Gemeindevorstand sowie die Arbeitsräume für den Registrator und Stammrollenführer, drei Expedienten, zwei Kopisten und zwei Hilfskopisten. Bürozeiten waren übrigens von Montag bis Sonnabend von 8 bis 13 und von 15 bis 19 Uhr. Nur sonn- und feiertags war das Rathaus geschlossen.

Die zweite Etage beherbergte den Gemeindesitzungssaal, das Heiratszimmer, ein Ausschusszimmer, in dem unsere Verhandlung stattfand, die Sparkasse, das Steuereinnehmer-Büro, das Einwohnermeldeamt sowie das Büro des Gemeindevorstehers. Dieses Amt hatte zu der damaligen Zeit für viele Jahre Franz Gustav Lemcke inne. In der dritten Etage waren Wohnungen.** Im Hinterhaus residierten der erste Schutzmann mit den anderen Mitgliedern des Exekutivpersonals, also Schutzmänner und Nachtwächter sowie die Feuerwehr.

Zurück zur Gerichtsverhandlung

Ortsrichter Beeg blätterte in den gemeindlichen Verfügungen, fand schließlich die entsprechende amtliche Bekanntmachung und brachte sie zu Gehör.

„Frau Grunewald, Ihr nachttöpfisches, übelriechendes Vergehen ist eine strafbare Handlung. Die Verordnung dazu ist schon 12 Jahre alt. Ich zitiere: ‚Zur Erhaltung der Reinlichkeit auf den hiesigen Straßen und Plätzen und im gesundheitspolitischen Interesse wird das Entleeren der Senkgruben auf die Straßen und Plätze, sowie das Gießen und Leiten von Plantsch- und Tagewässern auf die Letzteren hiermit mit Zustimmung der Herren Gemeindevertreter untersagt.‘“

Empört unterbrach Emilie den Ortsrichter. „Ich habe weder eine Senkgrube entleert noch Plantschwasser auf die Straße geschüttet.“ Genervt erwiderte Beeg, dass der Inhalt des Nachttopfes genau dem Inhalt der Senkgrube entsprechen würde. Damit träfe die Anordnung der Gemeinde voll zu. Und zudem lebe man nicht mehr im Mittelalter, wo die menschlichen Exkremente die Städte zu stinkenden Kloaken machten.

Für ihr Vergehen wurde Emilie Grunewald nach § 366, Absatz 10 des Reichsstrafgesetzbuches, auf dem die Verordnung in Pieschen beruhte, zu einer Geldstrafe von 30 Mark*** verurteilt. Diese Tat käme eigentlich einer Amtsbeleidigung und einem Attentat auf Amtspersonen gleich, meinte der Ortsrichter. Er wolle aber Milde walten lassen. Deshalb gab er nur noch die Auflage, die Amtskleidung des Herrn Reservenachtwächters Andrä auf ihre Kosten zu reinigen. Sie sei schließlich eine Wäscherin.

Anmerkungen des Autors:
*Die hier aufgeführten Personen waren zu der damaligen Zeit Bürger von Pieschen. Die erwähnte Verordnung existierte tatsächlich. Die Gerichtsverhandlung ist fiktiv.
**Wer mehr über das Rathaus erfahren möchte, dem empfehle ich die Dresdner Hefte Nr. 3/1990 Auf der Suche nach Zukunft – Das Bespiel Pieschen.
***entspricht heute etwa 192 Euro; (Kaufkraftvergleich historischer Geldbeträge; Deutscher Bundestag, wissenschaftlicher Dienst)

Unser Autor:
Der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb durchstöbert für seine Geschichten mit Vorliebe die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek.

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