Gerda Millensee steht gebeugt am Bett, streicht die Falten aus den Überzügen und klopft das Kissen weich. Tagsüber im Bett zu liegen, verbietet sie sich. Sie wartet auf ein Zeichen der Krankenschwestern für die Kaffeezeit, aber eine Einladung will partout nicht kommen. In den Gang zu lunschen und sich dem Personal aufzudrängen, liegt ihr fern, so verharrt sie geduldig im Zimmer. Sie zieht ein hellblaues Kleid an, das ihr die Sozialarbeiterin gestern – auf ihren Wunsch hin – aus der Wohnung geholt hat, und steigt mit viel Mühe extra auf einen Stuhl, den sie vor den Spiegel schiebt, welcher über dem Waschbecken hängt, um es vorteilhaft in Position zu bringen. Das Besteigen des Stuhls ist eine sehr riskante Unternehmung, aber Elfriede Wimmerbach assistiert ihr beim Auf und Ab.
Elfriede bewundert den straffen Sitz des Kleides bei Gerda und beneidet sie für die sportliche Figur. Elfriede hat sich dagegen entschieden, heute einen auf Garderobe zu machen, wie sie es ausdrückt. So bleibt sie in einem windigen Nachthemd und den selbst gestrickten Wollstrümpfen unter ihrer warmen Decke liegen und erwartet gleichfalls das Signal zum Kaffeeplausch mit den Damen und Herren aus den Nachbarzimmern. Erschiene die Schwester mit der frohen Botschaft, würde sie ihren geblümten Frotteebademantel überwerfen und so den
Gang betreten.
Francis Mohr wurde in Dresden geboren, wuchs in Leipzig auf und kehrte zum Studieren der Psychologie nach Dresden zurück. „Leipzig hat meinen Charakter geformt – in Dresden profitiere ich davon. Leipzig ist schnell, beweglich, schmutzig und riskiert etwas. Dresden braucht Zeit, ist ruhig und selbstverliebt. Beide Städte ergänzen sich wie Gaspedal und Bremse“, sagt er selbst.
2006 gründete Francis Mohr mit Leif Hauswald das Autorenduo „Federkrieger Dresden“. 2013 war er Mit-Initiator der Lesebühne „Phrase4“. 2009 veröffentlichte er eine im Landestheater Parchim uraufgeführte Bühnenfassung von „Der Schimmelreiter“ nach Theodor Storm. Und noch einmal der Autor: „Ich bin ein Verehrer der Familie, meiner Freunde und des Portweins. Mein Herz schlägt für den Süden, den Osten und das Meer“.
Gerda und Elfriede haben am selben Tag die Station bezogen – und dabei noch Glück gehabt, die einzige Zwei-Bett-Stube erwischt zu haben. In den anderen Zimmern sind es drei und manchmal sogar vier ältere Herrschaften, die sich die Luft zum Atmen und den Fernseher zum Gaffen teilen. Nicht selten tönt das Gezeter aus einem der Nachbarzimmer zu ihnen hindurch, wenn wieder einmal die falsche Zahnbürste den falschen Mund erreicht hat oder die Fernbedienung nicht auffindbar ist. Gerda und Elfriede waren sich auch gleich sympathisch und
versprachen sich bereits am Ankunftstag, aufeinander zu achten und im Falle einer Entlassung den anderen möglichst rasch von der Station zu lotsen. Was sie verbindet, ist ihre Schwerhörigkeit, die man fast schon Taubheit nennen kann. Dafür haben sie gute Augen und die Hände halten noch still, nutzen sie sie zum Schreiben. Sie tauschen sich mit Blicken und Zetteln aus. Und was sie noch koaliert, ist russische Literatur. Auf Elfriedes Nachtschränkchen liegt Fjodor Michailowitsch Dostojewskis „Der Spieler“, was Gerda wohlwollend registrierte und sie animierte, die Sozialarbeiterin um ein paar Bücher zu bitten. Nun liegt Dostojewskis „Der Idiot“ auf Gerdas Bett, und beide Damen haben
ein Thema: Dostojewskis Feuilletonromane und die russische Seele. Ganz entgegen beider Naturen boten sie sich bei einer Tasse Kaffee rasch und höflich das Du an, was ihnen hilft, manch Etikett zu umschiffen.
Auf den Betten und auf dem Boden liegen kleine Zettel herum, die eben jene Dialoge beider Damen enthalten. In tadellosem Deutsch und mit feiner Führung des Stiftes. Nachdenklich, präzise, aber auch mit Humor geschrieben. Weihnachten hätte besser gar nicht kommen können, denken sie, ohne es einander zu berichten. Wie durch ein Wunder hat sie das Schicksal in ein und dasselbe Zimmer gespült. Gerda wurde auf dem Bahnhof aufgegriffen, wo sie in leichtem Mantel und barfuß nach einer Fahrkarte gefragt hatte, die sie in die Alpen bringen sollte. Die Verkäuferin hinterm Schalter hatte sich auffällig freundlich benommen, und ehe sich Gerda versah, wurde sie in einen
Krankenwagen verladen und in die Klinik kutschiert. Ihr Sohn Konstantin hatte ihr wenige Tage vorher mitgeteilt, sie nicht an den Feiertagen besuchen zu können. Im neuen Jahr, womöglich bereits im Januar, wolle er sich wieder melden. Sie möge es ihm nicht verübeln, aber er sei frisch verliebt und Paula, die Angebetete, fahre immer über die Feiertage und Neujahr zum Skisport in die Alpen. Wenn alles gut laufe, stelle er ihr Paula nächstes Jahr vor. Mutter würde begeistert sein. Dem Brief lag ein Gutschein für einen Friseurbesuch in einem
Trend-Salon der Stadt bei, mit typgerechter Beratung, perfektem Schnitt und festlicher Frisur.
Nicht weniger spektakulär traf es Elfriede. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch im Hausflur zelebriert und wurde dann erwartungsgemäß mit Blaulicht durch die Straßen gefahren. Sie hatte den Rummel um sich herum genossen. Das Blaulicht hörte sie zwar kaum, aber das
Rotieren der Farbe auf dem Dach über sich und die beiden frisch rasierten Männer von der Polizei wusste sie wohl zu schätzen. Den Ärzten simulierte sie Verwirrung und Vergesslichkeit. Wenn die Feiertage herum wären, würde sie ganz plötzlich gesunden, den Medizinern für die Wunderheilung danken und wieder abzischen. Dabei hatte sie sich auf die Feiertage besonders gefreut. Enkel Xaver Balduin Emanuel – Tochter Charlotte bestand darauf, dass stets alle drei Namen zu nennen wären – also Xaver Balduin Emanuel hatte erstmalig eine Hauptstimme im Krippenspiel. Er war auserkoren, die Maria zu geben. Charlotte war mächtig stolz auf die Wahl und Xaver Balduin Emanuel wohl auch. Elfriede meinte zwar, dass Josef oder einer der Hirten für den Kleinen die angemessenere Singrolle sei, aber sie freue sich trotzdem zu kommen. Nur wohnten Charlotte und Familie fünfhundert Kilometer weit entfernt und so blieb ihnen nur der E-Mail-Verkehr. Elfriede hatte sich dazu extra in die Funktionen am Laptop eingearbeitet.
Doch ach, da gäbe es noch etwas, offerierte ihr per E-Mail Charlotte: Sie würden sich Weihnachten nicht sehen. Die Proben Xaver Balduin Emanuels schluckten die gesamte Zeit bis zum Vormittag von Heiligabend. Weder sie noch Ingmar, ihr Mann, würden es schaffen, Mutter abzuholen. Aber zum Glück habe man ja die Möglichkeit, per Handy alles aufzunehmen. Im Frühjahr nächsten Jahres würde man ihr dann einen Mitschnitt zeigen. Es wäre doch schade, wenn sie nicht teilhaben könne. Was Mutter denn am ersten Feiertag speise? Eine Gans oder einen Karpfen? Dann folgte der Wunschzettel von Xaver Balduin Emanuel mit präzisen Erläuterungen von Ingmar.
Und nun hocken Gerda und Elfriede, die eine im Bett, die andere auf dem Stuhl, an dem kleinen Tisch und warten auf das Aufreißen der Tür und eine freundliche Aufforderung zur Kaffeerunde zum vierten Advent. Aber was geschieht, ist nichts. Oder doch?
Über den Gang tobt das Personal. Der Alarm ist angesprungen. Das Fiepen ist überall zu hören. Kreiselnd pulsieren die roten Warnblinker.
„Kann mal jemand den Krach ausmachen?“, schreit Schwester Ina. „Quatsch! Das ist Alarm! Wir müssen jetzt raus! Auf den Sammelplatz!“
Nun geht es hektisch durcheinander. „Welchen Sammelplatz?“
„Na, am Hubschrauberlandeplatz.“
„Nein, auf dem Schulhof nebenan.“
„Auf dem Schulhof? Die lassen uns doch nie auf ihren Schulhof. Da bekommen
wir Ärger mit der Landeselternvertretung.“
„Wieso denn das? Es ist Sonntag.“
„Du glaubst doch wohl kaum, dass die unsere Patienten in die Nähe der Kinder
lassen. Die dulden noch nicht einmal gesunde Menschen.“
„Was soll denn das jetzt heißen?“
„Na ja, Asylanten und so. Unsere Damen und Herren sind ja auch irgendwie
Asylanten. Wenngleich auf Zeit. Allerdings stärkere Kaliber.“
Oberpfleger Willy erscheint und mischt sich ein: „Ruhe bewahren und
Sichtkontakt zu den Nachbarstationen herstellen! Ich rufe gleich mal bei der
Pforte an, ob es ein Fehlalarm ist.“
Er tippt eine Nummer ins mobile Telefon und flucht, denn niemand meldet sich.
„Die sind als Erstes getürmt.“
Er springt zum Fenster und schaut zur Hauptpforte.
„Na bitte, da haben wir es! Während hier keiner Bescheid weiß, stehen die Damen von der Pforte vorm Haupteingang und qualmen eine. Und jetzt stellt sich auch noch der Verwaltungsleiter dazu. Meine Fresse: Wer hat denn hier überhaupt das Kommando?“
Stationsärztin Frau Simmel schlendert mit einer Tasse Tee über den Gang. „Alles halb so wild. Das ist doch nur ein Fehlalarm. Nun haben Sie sich nicht so.“ Dann verschwindet sie in ihrem Dienstzimmer.
Ina ruft erbost: „Die hat die Ruhe weg! Aber, um ehrlich zu sein: Ich kann weder etwas sehen noch etwas riechen.“ Demonstrativ reckt sie ihre Nase in die Höhe. „Lasst uns schnuppern, ob es sich überhaupt um einen Brandfall handelt!“ Alle richten ihre Nasen aus.
Willy fängt sich als Erster: „Auch Quatsch. Als ob man riechen kann, dass es auf einer anderen Station brennt! Bei uns brennt es nicht. Aber wir haben die Arschkarte, wir sind in der obersten Etage. Egal, wo es brennt, Feuer kriecht nach oben. Ein Wasserrohrbruch wäre uns egal, da läuft es umgekehrt.“
Plötzlich erscheint Oberarzt Doktor Brandt und gibt Anweisungen: „Was ist denn hier los? Sie diskutieren und die Patienten verbrennen? Die Anordnung fordert auf dieser Station die Horizontalevakuierung. Heißt: Alle Patienten sind mit dem Bett aus den Zimmern zu schieben. Na los! Hopp, hopp!“
Die Pfleger und Schwestern, selbst die Ärztin, stürzen zu den Zimmern. Psychologe Jens Zopf kommt um die Ecke, ahnt, dass hier zu tun ist, und hastet auf Toilette.
Schwester Ina bemerkt es als Erste: „Verdammt! Die Betten passen nicht durch die Türen! Sie sind zu breit! Schöne Schei… Und jetzt? Was machen wir jetzt? Außerdem dürfen wir die Fahrstühle im Brandfall nicht benutzen. Mist, wie soll das denn nur alles funktionieren?“
Oberarzt Brandt schlägt stolz vor, Krankentragen zu holen.
Willy erschrickt. Zwei mobile Tragen gibt es nur im Nachbarhaus. Zu erreichen über den Verbinder. Bis man die geholt habe, stehe der Trakt in Flammen. Außerdem würden die Stahltüren im Verbinder schließen und nicht nur die Ausbreitung von Bränden, sondern auch ein Hindurch oder die Flucht verhindern.
„Dann nehmen wir die Decken. An jedes Ende zwei Träger – und los!“, korrigiert nun Frau Simmel.
„Und wenn die reißen? Vielleicht sollten wir erst einmal prüfen, wer von den Patienten laufen kann?“
Fachärztin Stütze erscheint auf dem Flur und ruft: „Hat jemand eine Ahnung, was zu tun ist? Auf sämtlichen Etagen herrscht das totale Chaos. Das wirkt hier alles wie auf der Flucht.“
Oberarzt Brandt erwidert genervt: „Da debattieren wir seit einem Jahr über die Anzahl und die Hängeplätze für Desinfektionsspender und benehmen uns, als würde jeder zweite Patient ohne diese über kurz oder lang sterben, aber einen Ablaufplan im Brandfall haben wir nicht.“
Frau Stütze, die Hygienebeauftragte des Hauses, ist sichtlich verärgert. „Doktor Brandt, Sie müssen sich gerade beklagen. Als verantwortlichen Arzt für die Einführung des neuen Abrechnungssystems frage ich sie: Wozu brauchen wir denn überhaupt noch einen Brandschutzplan? Die Gesundheitshäuptlinge haben doch eh vor, ein Drittel der Kliniken einzustampfen. Ganz langsam und behutsam. Und vorab werden die Mitarbeiter über den Dokumentations- und Abrechnungswahn ins Burnout geschossen. Heißt: Wenn unsere Klinik schon
eher abbrennt – wunderbar, eine weniger! Und ein stattliches Versicherungssümmchen obendrauf! Das Personal wird bereits so erschöpft
sein, dass niemand mehr in der Lage und willens ist, das Haus vor den Flammen zu retten. So sieht es doch aus, oder? Und noch etwas: Bevor wir alle die Klinik verlassen, desinfizieren wir uns noch die Hände. So gehen wir wenigstens mit sauberen Händen aus der Sache raus.“
Frau Stütze beginnt zu schluchzen, während im Hintergrund bereits ein Martinshorn zu hören ist. Schwester Ina nimmt sie in den Arm und tröstet sie. „Frau Doktor, wir schaffen das. Jetzt bringen wir fürs Erste die alten Damen und Herren auf den Hof.“
Und während auf den Stationen ein Sturm tobt, die Halbkurierten durch das Treppenhaus stolpern und die Gebrechlichen, in Decken hängend, über das Linoleum geschleift werden, sitzen Gerda und Elfriede, unsere beiden schwerhörigen Damen, am Tisch und beobachten das Flackern von vier roten Kerzen in grünem Gebinde, die Gerda vor wenigen Minuten angezündet hat. Sie haben sich für Nachsicht entschieden. Die Schwestern wären sicher überlastet, sodass heute das Kaffeetrinken ausfalle. Versunken starren sie auf die Flammen und genießen ihren vierten Advent.
Am nächsten Morgen ist es Pfleger Jörg, der die beiden Frauen weckt und die heruntergebrannten Kerzen entdeckt. Er zählt eins und eins zusammen, schmunzelt und lässt die Kerzenstummel im Kittel verschwinden. In dem Trubel gestern Abend hat man die Damen völlig vergessen. Sie wären wohl gestorben, hätte es tatsächlich gebrannt. So deklarierte man einen Fehlalarm, der im Grunde keiner war, wie wir nun wissen, und versprach sich Besserung.
Aus „HOTEL A TORIA“ von Francis Mohr, erschienen bei zwiebook
ISBN: 978-3-943451-38-2
erhältlich überall im Buchhandel, z. B. bei „Shakespeares Enkel“ in der Weimarischen Str. 7 oder online
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