Szenenapplaus. Pausenklatschen – und schließlich ein finaler Beifall, der durch das Zentralwerk brandete und klar machte: Diese Aufführung war großartig. Gegeben wurde „La Boheme“, gesungen und gespielt von Musikstudenten. Diese hatten sich über das Dresdner Off-Opernprojekt „szene12“ zusammengefunden, welches seit 2012 musikalische Klassiker modern inszeniert und an ungewöhnlichen Orten präsentiert.
In diesem Herbst nun ist es die Kammeroper von Giacomo Puccini, welche ihre Zuschauer sozusagen durch das Schlüsselloch des ausgehenden 19. Jahrhunderts in das Leben der Pariser „Boheme“ schauen lässt – direkt in das Seelenleben vier junger Männer. Das des Dichters Rodolfo wird dabei besonders sorgfältig ausgeleuchtet. Denn mit ihm und seinem Freund, dem Maler Marcello, steht auch die Frage im Raum: Wie frei ist der freie Künstler wirklich? Ist die Freiheit selbst gewähltes Glück, welches sich nur pur genießen lässt oder eher doch selbst gewähltes Leid, weil die Sorge ums Alltägliche überwiegt? Die Antwort: Der sensible Rodolfo ist sogar bereit, sein Manuskript zu verbrennen, nur, um es ein paar Minuten lang warm zu haben.
„Der ideale Stoff für eine Oper.“
Bevor die beiden Freunde jedoch in Schwermut versinken, treffen zwei andere junge Männer in der Künstler-Wohngemeinschaft ein – mit Holz, Geld und Alkohol. Und dann wird gefeiert, dem Alltag zum Trotz. Es wird geliebt, die Zukunft ignorierend. Das Leben ein Heute. Die Kunst ein Jetzt. „In dem Buch war alles, was ich suchte und liebe: die Frische, die Jugend, die Leidenschaft, die Fröhlichkeit, die schweigend vergossenen Tränen, die Liebe mit ihren Freuden und Leiden“, wird Giacomo Puccini zitiert, nachdem er Henri Murgers Roman „Les scènes de la vie de bohème“ gelesen hatte. „Das ist Menschlichkeit, das ist Empfindung, das ist Herz. Und das ist vor allem Poesie, die göttliche Poesie. Sofort sagte ich mir: das ist der ideale Stoff für eine Oper.“
Für Regisseur Toni Burghard Friedrich war es wohl der ideale Stoff für eine eindrucksvolle Inszenierung mit zwei Sängerinnen und sechs Sängern der „szene12“, aus Dresden, Leipzig, Stockholm und Glasgow. Begleitet wurden sie von jungen Profimusikern aus allen Ecken Englands unter der Leitung von Matthew Lynch.
Originell arrangierte Töne und witzige choreografische Einfälle
Schon der Auftakt mit Countertenor Etienne Walch ließ aufhorchen. Als eine Art schwarzer Papageno tiriliert er sich märchenhaft durch die vier Bilder der Oper. Die Paraderollen haben Annika Steinbach als Mimi und Luke Sinclair als Rodolfo. Sie dürfen als Jungverliebte und vom Leben Geläuterte schmachten, was das Zeug hält. Nikolaus Nitzsche als Marcello und Leevke Hambach sind mit genauso viel Spielfreude wie stimmlicher Präzision dabei und der jungenhafte Arvid Fagerfjäll überrascht als Schaunard mit einer wohltuend reifen, angenehm gesetzten Stimme, mit der er auch parodieren kann.
Neben den originell arrangierten Tönen gibt es witzige choreografische Einfälle und interessante bühnenbildnerische Ideen, etwa das Selfie mit Mini-LED-Weihnachtsbaum oder das Schattenkabinett mit Eiffelturm und Notre Dame. Bei all dem sitzt der Zuschauer ganz aktuell im Gestrigen, inmitten der morbiden Kulisse des Zentralwerks, und sorgt sich vielleicht, dass durch die pure Lebenslust, die sich musikalisch durchs Haus schwingt und in alle Ecken und Winkel dringt, noch mehr Farbe von Decke und Wänden abblättert.
Egal. Er ist dabei. Ganz nah dran. So, als würde er am Dorf-Fußballplatz stehen und dort ein Spitzenspiel der Bundesliga erleben. Verstörend an diesem wunderbaren Abend ist allein das Opernende – aber das ist beim Fußball ja oft ähnlich.
>> die nächsten Aufführungen: Do, 29.09.2016 – 20:00 Uhr, Sa, 01.10.2016 – 20:00 Uhr, Mo, 03.10.2016 – 14:30 Uhr
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